Karl Bühlmann

Der Flaneur ist unterwegs (18)

Hüten wir uns vor den Frauen!

Von Karl Bühlmann ( Text)  und Joseph Schmidiger (Bild)

Eigentlich hatte ich am 23. Oktober vor, ins Historische Museum zu spazieren und die neue Ausstellung «50 Jahre Frauenstimmrecht» im Kanton Luzern» zu besuchen. Der Weg dorthin hätte mich zuerst in die Zentral- und Hochschulbibliothek geführt, wo die Porträtgalerie «merkwürdiger Luzernerinnen und Luzerner» kürzlich Zuwachs bekommen hat. Das jüngste Bild würdigt die 1931 verstorbene Marie Amrein-Troller, die Mitbegründerin und nach dem frühen Tod ihres Mannes auch Direktorin und Retterin des Gletschergartens. Sie ist erst die fünfte Frau neben 255 Männern, die in den letzten 250 Jahren Aufnahme in den erlauchten Kreis der porträtierten «Merk-Würdigen» gefunden hat. Der Frauenanteil in diesem Zirkel der Nobilitierten: 1.915 Prozent. Wen wundert’s, wenn im aktuellen Luzerner Regierungsrat keine Frau sitzt? 

Von der Bibliothek aus wäre ich an den Hirschengraben spaziert, wo es bis zur Entfestigung der dortigen Mauer den Frauenturm gab. Unter dem baulichen Überbleibsel beim Mittelschulzentrum hindurch führt heute der Weg zur Rückseite des Regierungsgebäudes, wo die fünf Regierungsmänner schalten und walten, jeder zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen. Von dort wäre es noch einen Katzensprung ins Historische Museum gewesen.

Aber eben: Der Freitag war trüb, kalt und es schüttete. Soll der Flaneur, gemäss Statistik ohnehin ein vulnerables Subjekt, sich gegen das Wetter vermummen, auf der Strasse sich mit Schirm tarnen, für das Museum und die Mitmenschen sich mit Maske verschleiern? Er, der ohnehin kein Freund von Maskenbällen jeglichen Couleurs ist. Der Aufruf «Bleiben Sie zuhause!» kommt ihm gerade recht und wird zum Vorwand, für einmal nicht physisch zu flanieren, stattdessen im eigenen Archiv zum Thema «Frauenstimmrecht» zu recherchieren. Wofür hat man im analogen Zeitalter jahrelang Geschriebenes, Ausgedrucktes, Ausgeschnittenes, Kopiertes gesammelt? In Ordnern und Schachteln abgelegt, damit die Regale im Keller gefüllt – und immer noch nicht, trotz mehrmaliger Versuche, im Ökihof entsorgt? – An Schlechtwettertagen, wenn das Flanieren selbst Hundehaltern keinen Spass macht, kann das Stöbern zuhause nach abgelegten Dokumenten zu ergötzlichen Resultaten führen.

Denn ich wurde fündig: Auf einen Auszug aus dem ‘Amtlichen Bulletin’ zu den Debatten der Eidgenössischen Räte von 1958 über die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. (Herzlichen Dank alt Nationalrat N.H. für die seinerzeitige Zustellung!) Nach dem Scheitern mehrerer Anläufe in einzelnen Kantonen hatte 1958 der Bundesrat die Initiative ergriffen und dem Parlament die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für die Frauen auf eidgenössischer Ebene vorgeschlagen. Die Diskussionen im National- und Ständerat waren damals heftig. Für die Gegner der Vorlage gehörte die Frau weiterhin ins Haus mit Herd, nicht ins Gemeinde- oder Bundeshaus.

Der Flaneur beschränkt sich auf die Wiedergabe von einigen gegnerischen Voten, in denen der Untergang der Demokratie und die Zerrüttung der Familie an die Wand gemalt wurde.

«Die Schweizer Frau hat in unserm Land eine allgemein geachtete und sozial weithin gesicherte Stellung inne. Durch deren vermehrten Einbezug in die politischen Auseinandersetzungen hat die Schweizer Frau nichts zu gewinnen, sondern nur zu verlieren. Der Wirkungskreis der Frau ist die Familie. Haben wir ein Interesse daran, vermehrt die Politik in die Familie zu tragen und damit einen Unruheherd aufzuzeigen, der nicht nur das Verhältnis zwischen den Ehegatten belastet, sondern möglicherweise auch noch vorzeitig die volljährigen Kinder aus dem Hause treibt?»

Einen besonders schweren Stand hatten die Befürworter der Vorlage bei den Vertretern der Landwirtschaft: «Die Bauernfrau hat im Allgemeinen kein Verlangen nach dem Stimm- und Wahlrecht. Sie schenkt ihrem Mann das Zutrauen, dass er das schon recht mache und froh ist, dass sie damit nicht zusätzlich belastet ist.  In der Sorge um die Existenz der Familie vollbringen Bauernfrauen gelegentlich Leistungen, die weit über ihre Kräfte gehen. Glaubt jemand, dass diese Frauen noch ein Verlangen nach zusätzlicher Arbeit mit dem Stimm- und Wahlrecht haben werden?»

Ein Entlebucher Nationalrat sorgte sich präventiv über die Fahr- und Marschtüchtigkeit der Frauen: «Ich war letzte Woche in zwei Bauerngehöften am Napf und habe mir Gedanken gemacht, wie es da bestellt wäre mit der Erfüllung der Bürgerpflicht.  Die beiden Gehöfte sind vom Gemeindezentrum zwei Wegstunden entfernt und durch Fussweg und Fahrweg mit ihr verbunden. Für die Begehung des Fussweges müsste ich bei Regenwetter Stiefel empfehlen. Der Fahrweg ist denkbar schlecht. Mit wieviel grösseren Opfern ist für die Frauen die Erfüllung der Stimmpflicht verbunden, verglichen mit jenen in den Städten, die mit dem Tram, dem Fahrrad oder dem Motorfahrzeug bequem und leicht das Abstimmungslokal erreichen können»“

Ein Gegner der Vorlage befürchtete, dass Politik den Charakter der Frau beeinträchtige: «Stellen wir uns eine Frau im Wahlkampf vor! Hüten wir uns, den Charakter der Frau der Gefahr auszusetzen, verdorben zu werden. Ich bin überzeugt davon, dass diese oder jene Frau an ihrem Mann, der im politischen Kampf steht, eine nachteilige Veränderung im Charakter festgestellt hat. Soll die Frau in den Strudel der Politik hineingezogen werden? Wir Männer wünschen, dass die Frau in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Charakter, in dem was wir Männer zu schätzen wissen, erhalten bleibt.»

Eine politische Milchbüechlirechnung aus der Zeit, als es noch keine Prognosen, Analysen und Online-Umfragen gab: «Wenn schon, wie die Botschaft sagt, zu 90 Prozent Mann und Frau gleich stimmen, genügt dann nicht schon die einfache Stimme als Stimme der Familie, erreichen wir damit nicht auch zu 90 Prozent das gleiche Resultat. Warum kompliziert, wenn es einfach auch geht?»

Die Familienharmonie würde gefährdet, wenn zuhause nicht Einstimmigkeit herrscht, wie’s mit dem Vaterland weitergehen soll: «Nun sind aber die anderen 10 Prozent geeignet, schwerwiegende Auseinandersetzungen zwischen Ehegatten oder auch zwischen Geschwistern in der Familie zu schaffen, Differenzen, die zu Spaltungen führen können. Meinungsverschiedenheit unter den Ehegatten können sich sehr nachteilig auf das gegenseitige Verhältnis auswirken und ein abschreckendes Beispiel für die Kinder werden.»

 

Ein studierter Vertreter des Mannenvolkes bemühte für sein Votum im Bundeshaus einen Pionier der Politikwissenschaft: «Alle politischen Systeme gehen an ihren Übertreibungen zugrunde, hat einer der grössten Staatsdenker des letzten Jahrhunderts, Alexis de Toqueville gesagt. Das gilt auch für die Demokratie. Eine Übertreibung der Demokratie kann ihr richtiges Funktionieren geradezu verhindern. Wir stehen schon heute mitten in der Gefahr drin. Die Gefahr wird durch die Einführung des Frauenstimmrechts nicht behoben, sondern vergrössert. Ich fürchte, dass mit der Einführung des Frauenstimmrechtes bis an die Grenze der Erträglichkeit der menschlichen Unzulänglichkeit vorgestossen wird.»

Und schliesslich fehlte auch der göttliche Schuss von der Kanzel nicht: «Die völlige Rechtsgleichheit von Mann und Frau wird wohl nie erreicht werden können. Das verhindert schon das verschiedene Geschlecht und die verschiedenen Aufgaben, die Mann und Frau durch die Schöpfung zugedacht sind.»

 

Trotz dieses Wald- und Wiesen-Buketts an Behauptungen und Befürchtungen: Die Vorlage wurde im Nationalrat überraschenderweise mit 118:45 und im Ständerat mit 21:14 Stimmen angenommen. Doch an der Urne bockten die Schweizer Männer nochmals: Sie lehnten an der Abstimmung vom 1. Februar 1959 das Frauenstimm- und –wahlrecht mit 67 Prozent gegen 33 Prozent ab. Nur die Kantone Genf, Neuenburg und Waadt sagten Ja. Im Kanton Luzern stimmen 79 Prozent dagegen.

Elf Jahre später erhielten die Luzerner Frauen das kantonale Stimm- und Wahlrecht, diesmal mit bemerkenswerten 63 Prozent Ja-Stimmen. Und ein Jahr später hatte sich auch in der Schweiz das 1959er-Verhältnis von 33 zu 67 Prozent gegen das Frauenstimm- und -wahlrecht auf nationaler Ebene ins Positive gekehrt. 

Und jetzt? Der Flaneur steht, 60 plus 2 Jahre seit den zitierten Voten aus dem ‘Amtlichen Bulletin’, vor der Frage: Sollte die Schachtel im Keller mit den Papieren zum Thema ‘Frauenstimmrecht’ nicht endlich im Ökihof entsorgt werden?

Zur Person: 
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.

27.Oktober 2020

karl.buehlmann@luzern60plus.ch