Judith Stamm.                                                                          Foto: Joseph Schmidiger

Mitte

Von Judith Stamm

Wenn ich «Mitte» höre, kommt mir immer zuerst der Aelggistein in den Sinn. In Wikipedia wird er als «Mittelpunkt der Schweiz» beschrieben. Er liegt auf der Aelggi-Alp im Kanton Obwalden im Gebiet der Gemeinde Sachseln, 1645 über Meer. Die Lage wurde 1988 anlässlich der 150-Jahr-Feier des Bundesamtes für Landestopografie ausgemessen. Von 2003 bis 2015 wurde an diesem Punkt alljährlich der «Schweizer des Jahres» geehrt und der Name auf einer auf dem Stein angebrachten Tafel eingraviert.

Aber nun kommt der Clou! Der ausgemessene Mittelpunkt ist schwer zugänglich. Deshalb wurde der Stein mit den verewigten Namen 500 m weiter südöstlich platziert. So ist er besser erreichbar!

Mich verblüfft, dass ich in meinem Umfeld selten jemanden treffe, der von diesem Stein, von der Mitte der Schweiz, etwas weiss. Und schon gar nicht vom «Buebetrickli», die ausgemessene, aber schwer zugängliche topographische Mitte so zu legen, dass wir zu ihr pilgern können! Soll ich daraus Schlussfolgerungen ziehen? Lieber nicht!

Wo begegnet uns denn die Mitte noch? Interessant ist das Wort «eingemittet». Ist es, als Bezeichnung für einen Menschen, ein Kompliment oder eher das Gegenteil? Da weiche ich rasch aus auf ein Sprichwort in englischer Sprache: «beauty is in the eye of the beholder». Übersetzt meint es, die Schönheit, die attestiert werde, liege im Auge des Betrachters. Sodass ein Objekt, z.B. ein Kunstwerk, dem einen als Spitzenwerk, dem anderen als hässliches Machwerk erscheinen kann.

Und wie steht es denn mit einer eingemitteten Person? Ich denke, ein solcher Mensch hat es nicht einfach im Leben. Er oder sie kann heute mit einer gesellschaftspolitischen Position in der Mitte sympathisch wirken. Wenn aber der Wind der öffentlichen Meinung dreht, kann er oder sie zum Hassobjekt vieler werden. Oder dann wieder ganz im Gegenteil völlig unkritisch als Vorbild auf den Sockel gehoben werden.

Die «Entfaltungsmöglichkeiten» einer eingemitteten Person sind mannigfaltig. Ungefährlich ist es nicht, eine Position in der Mitte des allgemeinen Wohlgefallens ohne Vorwarnung zu verlassen, in welcher Richtung auch immer!

Was ist nun drittens davon zu halten, wenn eine Interessengemeinschaft sich ausgesprochen als «der Mitte» verpflichtet deklariert? Die Partei, der ich angehöre, hat sich ja auf diesen Weg begeben. Verlässt ihren klar umschriebenen Standpunkt als «Christlichdemokratische Volkspartei» und versucht, als «Partei der Mitte» bis jetzt nicht interessierte Gruppen der Bevölkerung anzusprechen.

Mich reizt es schon lange, von allen in der Schweiz existierenden Parteien die mittleren Positionen herauszufiltern und sie zusammen zu fügen. Und dann zu betrachten, was für ein Resultat, was für ein Profil das ergibt.

Aber ich gestehe, dafür hat mir bis jetzt die Zeit und die Musse gefehlt. Vielleicht müsste ich die Anregung einmal einem unserer Politikbeobachtungsinstitute unterbreiten. Diese verfügen über die notwendigen Instrumente, Tools, um solche Vergleiche und Schlussfolgerungen durch Algorithmen ausführen zu lassen. Der absolute Luxus wäre, dieselben Aufgaben Menschen und Algorithmen zu übertragen. Ob sie uns dieselben Resultate präsentieren würden?

Natürlich ist mir klar, dass es heute schwerwiegendere Themen gibt, die zu bedenken und besprechen wären: Corona, die Beziehungen der Schweiz zur EU und anderes mehr. Bei jedem Problemkreis gilt es ja, das Ganze zu überblicken, die Extrempositionen auszumachen und sich dann für eine ausgleichende, in der Mitte liegende Lösung zu entscheiden.

Gerade in der aktuellen Berichterstattung wurde der Bundesrat im Zusammenhang mit Corona immer wieder gelobt. Er habe die Bevölkerung durch die Pandemie wie seinerzeit Moses sein Volk durch die Wüste geführt. Um ein Bild aus dem Alten Testament zu bemühen.

Was die Europapolitik anbelangt, da brodeln die Gemüter ob dem brüsken Abbruch der Vertragsverhandlungen mit der EU immer noch. Dabei ist es vor allem die Kommunikation des Abbruches, die als brüsk empfunden wurde und viele Menschen erschreckte. Das sei in keiner Weise schweizerisch, wurde gemahnt! Beide Fragestellungen, Corona und Beziehungen zur EU, erscheinen mir im Augenblick als zu »grosse Brocken», um sie in einer Kolumne abzuhandeln.

Da gebe ich Leserinnen und Lesern lieber noch zwei Sinnsprüche mit auf den Weg, die mir während des Schreibens immer wieder in die Quere gekommen sind. Wohl, damit ich sie auf keinen Fall vergesse!

Der erste stammt vom deutschen, evangelischen Theologen und Publizisten Jörg Zink (1922 – 2016), der ihn als Titel eines seiner Bücher gewählt hat: «Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages».

Den zweiten finden wir bei meinem Lieblingsautor Werner Bergengruen (1892 – 1964): «Immerdar erweist das Ende sich als strahlender Beginn»!

2. Juli 2021  judith.stamm@luzern60plus.ch

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.