Kirche St. Karl und Schulhaus St. Karli

Ohne Titel, ohne Touristen

Flaneur Karl Bühlmann ist diesmal in einem Quartier unterwegs, welches von Touristen weniger besucht wird. Aber umso multikulti fühlt sich sein Spaziergang an.

Von Karl Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Fotos)

Die Route ist kein Thema für Luzern-Tourismus. Ehe ich in die Spitalstrasse einbiege, rast mir eine Ambulanz mit Blaulicht und lauter Sirene entgegen. Wenig später versperrt ein Lastwagen, beschriftet mit Ablauf-Ambulanz Rohrreinigung das Trottoir. Das heftige Gewitter hat vieles verstopft. Ob Patient oder Kanalisation, Verstopfung ist immer ein gastroentereologischer Störfall, welcher ambulanter, mechanischer oder medizinischer Rettung bedarf. Der Flaneur steht vor der riesigen Felsrippen-Baugrube zwischen Spitalstrasse und dem neuen Parkhaus im schimmernden Farbstreifenlook. Höt Lauch, morn Maschene hat die Aushubfirma plakatiert – was will sie mir sagen? Der Neubau des Kinderspitals und der Frauenklinik kommen hierher zu stehen. Rund 200 Mio. Franken sind budgetiert. Die jetzige Frauenklinik mit den grün schimmernden reflektierenden Glasplatten wurde erst vor 20 Jahren eröffnet, galt als topmodern und doch sind ihre Tage gezählt.

Ein Spital ist nie fertig. Wir bauen täglich, damit wir unsere Patienten nach aktuellsten Standards behandeln können steht auf der Homepage des Luzerner Kantonsspitals. Dieses nennt sich heute LUKS. Der Exitus des rostbraunen Bettenhochhauses, 16 Stockwerke, 1982 eröffnet, 220 Mio. Franken teuer, auf dem Dach ein Helikopter-Landeplatz, ist auch beschlossen. Östlich davon kommt ein neues Spitalzentrum und Bettenhaus zu stehen. 1902 bei Inbetriebnahme des Spitals nannte sich dieses noch Krankenanstalt. Fünf Gebäude waren auf dem Gelände, es gab 230 Betten, 60 Ärzte und Krankenschwestern sorgten für die Patienten. Zum LUX-LUKS heute gehören 16 Kliniken, in Luzern stehen auf dem Gelände 48 Gebäude, 7'300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen betreuen die Patienten, an Betten sind es deren 872. Die Spezialisierung in der Medizin hat ihren Preis auch in der Zahl der notwendigen Baukörper.

Bildungszentrum XUND. 

Das Bildungszentrum XUND an der Spitalstrasse, ästhetisch bestechend, 50 Mio. Baukosten, wurde vor zwei Jahren eröffnet. Das Bildungszentrum bleibt bis auf Weiteres für die Öffentlichkeit geschlossen steht an der Türe. Ich hoffe, der Grund sei die Pandemie. Das alte Parkhaus, das vor den Klinikbauten dahinter keine «Gattig» macht, muss für das Ambulatorium weichen. Mein Spaziergang auf den Spitalhügel führt zu guter Letzt nach West, vorbei an der Gärtnerei, der Betriebsfeuerwehr, der Psychiatrischen Tagesklinik. Dem Flaneur fällt nolens volens Raiffeisen-CEO Guy Lachappelle ein, der wegen einer Liebesaffäre beruflich bös abstürzte. Seine Ex-Geliebte, die eine psychiatrische Klinik (nicht in Luzern!) leitet und Verwaltungsrätin der Mediclinic International ist, hat ihn zum Abschluss der Beziehung den Medien ans Messer geliefert. Im Unterschied zum lächerlich gemachten Opfer und Beziehungstäter bleibt die Beziehungstäterin und sich rächende Unberührbare in Weiss in ihren Ämtern. Das aktuelle Zitat dazu: Psychiater*innen sind in der Psychiatrie gut aufgehoben.

Zurück auf der Hauptstrasse, wo die Trüllhofstrasse abzweigt, zur Reuss hinunter. An ihrem Ende trüllte im 19. Jahrhundert die Wasserkraft das Rührwerk der Teigwarenfabrik Gebrüder Ronca. Nächste Station ist La Chapelle, nicht der Guy, sondern die 1660 von der Patrizierfamilie Cloos gestiftete und Carlo Borromeo, meinem Namenspatron geweihte Kapelle. Sie liegt etwas versteckt und ist jetzt eine Kinderkapelle. Das Altarbild zeigt den Erzbischof und für die Innerschweiz im 16. Jahrhundert zuständigen Glaubensverstärker aus Milano, umgeben von vier nackigen, allernotwendigst geschürzten flatternden Engelchen. Weia, weia, wäre das Bild heute gemalt, würden Maler und Stifter des Bildes der Pädophilie verdächtigt.

Altarbild in der Kinderkapelle.

Der heilige Visitator hat dem Quartier seinen Namen geliehen, für Kirche, Schulhaus, Brücke und zwei Strassen. Aus dem Vatikan kam nie ein Einspruch gegen die umgangssprachliche Verniedlichung des Namens Karl in Karli. In einem Backsteinhaus bezeugt der Bewohner auf der Balkonbrüstung mit We are the 99 seine Sympathie zur eingeschlafenen Occupy Wall Street-Bewegung. In der neogotischen Villa Karlistrasse 21, beste Wohnlage, ist die Gewerkschaft UNIA Zentralschweiz zuhause. Schräg gegenüber thront das schützenswerte Schulhaus St. Karli, erbaut vor 110 Jahren von Stadtbaumeister Karl Mossdorf im Heimatstil. Im Gegensatz zu den Spitalbauten tut es noch immer seinen Dienst, wird jetzt aber saniert und erweitert. Die Kirche St. Karl, am Brückenkopf zur Reuss und zwischen zwei Quartieren situiert, ist architektonisch das stilistische Gegenstück. Der kubische Betonbau mit schlankem rechteckigem Glockenturm ist das erste Werk moderner Kirchenarchitektur in der Zentralschweiz und wurde 1934 zum Referenzobjekt des jungen Architekten Fritz Metzger. Der damalige Bischof rügte die «extrem-sachliche Einfachheit». Der Flaneur, maskiert gemäss Aufforderung, findet sich allein und geborgen im grossartigen, durch Rundstützen gegliederten Innenraum. Weil es draussen regnet, bleibt viel Zeit für den künstlerischen Schmuck, die Fresken und Glasfenster von Hans Stocker, die Reliefs von Albert Schilling und Werken weiterer Künstler in Ober- und Unterkirche. Unter dem vorkragenden Dach auf der Terrasse schauen die vier Evangelisten von August Blaesi über die Reuss, an der Kirchenecke beobachtet die Borromäus-Skulptur von Karl Bick den Verkehr über die Brücke. Warum Bildhauer Leopold Haefliger Senior, Vater des Malers Pöldi Haefliger, das Relief beim Eingang zur Sakristei mit B. Haefliger signierte, bleibt ein Rätsel.

 

Vier Evangelisten von August Blaesi schauen auf die Reuss.

Der Regen hat nachgelassen, weiter zum Kreuzstutz-Kreisel. Vor der Eisenbahn-Unterführung hat ein Sprayer seine Unzufriedenheit mit Worten ausgedrückt: Gegen jede staatliche Ordnung. Der VBL-Bus, der nach Emmenbrücke fährt, zieht den Stromabnehmer ein und fährt ab Haltestelle Kreuzstutz wegen Grossbaustellen mit dem Notstromgenerator weiter. Hier stand früher das Clublokal des FC Südstern. Der Flaneur drückt sich an der 120jährigern Wohnhäuserzeile der Baselstrasse entlang. Die Werkstattbuden, und geschlossenen Läden machen einen verlorenen Eindruck, funktionieren aber offensichtlich geschäftlich. Ein Lokal wirbt mit best Kebap in town, im ehemaligen Restaurant Meienrisli ist Nour Indian, Super Shop & Takeway eingezogen. Beim Motocenter, durch verstaubte Schaufenster sind glänzend polierte schwere Motorräder erkennbar, muss die Kundschaft vor der Tür zur Kenntnis nehmen: Wir sind meistens um 9 oder 10 Uhr da, manchmal schon um 8, aber auch mal erst um 11 Uhr. Wir gehen ungefähr um 15-18 Uhr, manchmal schon um 14 Uhr. Manche Tage oder Nachmittage sind wir überhaupt nicht hier, aber in letzter Zeit fast immer.

Am Ende der Häuserzeile, beim Grenzweg, endete vor der Fusion mit Littau die Stadt. Die Baselstrasse wird zur Hauptstrasse unbenannt. Das linksseitige Trottoir hört auf, weiter geht’s auf der rechten Seite auf schmalem Weg der Eisenbahnlinie entlang. Linkerseits wird die Stützmauer zurückversetzt, der Strassenraum soll breiter werden, obwohl die Spange Nord nicht kommt. Geplant ist geplant, bestellt ist bestellt, gut ist es ohnehin für die Nadelöhr-Strecke. Das Quartier Fluhmühle liegt noch immer zwischen zwei steilen Flühen, die Mühle im Reussthal, deren Wasser aus dem höher gelegenen Längweiher kam, gibt es längst nicht mehr, der Name für den Ort ist geblieben. Viele Bauten sind form- und farbmässig in die Jahre gekommen. Nur der Glaskubus der Kurt Steiner AG im verschachtelten Baugeviert fällt als glänzender Solitär aus dem Rahmen. Aus der Openair-Bar Container 13, rechts vom Zimmeregg-Tunnelportal der SBB-Bernlinie, schallt Techno mit hohen Dezibelwerten, auf der Terrasse wird getanzt. Die Lindenstrasse ist eine Vorstadt-Wundertüte, günstige Altwohnungen, allerlei Werkstätten, Verkaufslokale mit Krams und Krempel, geschlossene Spunten und geöffnete Beizen. Brocki-Antonio hat sich an seinem Verschlag mit Ferien bis !!! abgemeldet und lässt Besucher wissen: Nur ein Kunde, max. 5 Minuten.

Das Trottoir in Richtung Reussbühl verunsichert. Ist dieser fünf Meter breite Streifen tatsächlich für Fussgänger gedacht? Noch fehlen Markierung und Beschilderung. Die Strasse hat mehr Fahrbahnen erhalten. Möglich macht dies die 350 Meter lange, imposante, zurückversetzte Reussthalmauer, welche die bisherige Natursteinmauer ersetzt. Die neue Stützkonstruktion ist bis 23 Meter hoch und durch die vertikale Gliederung der gewaltigen Betonfläche zum sehenswerten Bauwerk geworden. Für die 23 Mio. Franken Kosten gibt’s auch eine Busspur, Rad-/Gehweg und Radstreifen. Damit ist das lange Kapitel der Verkehrserschliessung an dieser Enge wohl zu Ende. 1305 hatte man erstmals die Krummfluh, die bis zur Reuss hinausragte und den Durchgang versperrte, ein Stück abgetragen. Die Eisenbahn, der Strassenausbau, 1901 die Trambahn nach Emmenbrücke, erforderten sukzessive weitere Felsabsprengungen.

Wo die neue Mauer endet, ist die Bus-Haltestelle «Schiff». Der Name hat seine Bewandtnis. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts transportierte eine Fähre die Wanderer über die Reuss. Wer Gemütliches ohne Polizeistunde im Sinn hatte, kehrte im Ibach ein. Zum Wirtshaus gehörte im Freien eine überdachte Kegelbahn. Wenn ich mich richtig erinnere, konnte man als Schüler mit Kegelaufstellen 50 Rappen in der Stunde verdienen. Beim einstigen Fährenstandort endet für Patentfischer noch immer die Reuss-Fischenze der Korporation Luzern und damit das Recht zum Fischfang.

Der VBL-Bus 2 lässt an der Haltestelle «Schiff» die Stromabnehmer wieder an die Oberleitung. Hagel setzt ein, der Flaneur verdrückt sich in einen Hauseingang. Rechts rollt der Strassen- und Eisenbahnverkehr, noch mehr rechts fliesst die breite Reuss, und ganz rechts zieht sich die Autobahn A2 dem Hang entlang – für mehr ist kein Platz da. Mit jedem Schritt von mir, 12'000 sind es inzwischen, naht Reussbühl mit der neoromanischen Pfarrkirche auf dem Hügel. Mein Ziel ist der Seetalplatz. Sieben neue Brücke sind dort in den letzten sieben Jahren gebaut worden, vier Kilometer Strasse, 38'000 Tonnen Asphalt verlegt. Mit den Hochwasserschutzmassnahmen zusammen hat das Ganze 190 Mio. Franken gekostet.

Die ganze Aufmerksamkeit gilt dem Signalmast am Anfang der Reussbühlbrücke. Er trägt die Lichtsignalanlage und die Tragseile der Beleuchtung und musste ausserhalb der Fahrbahnen fundiert werden. Das bedingte eine aussergewöhnliche Konstruktion. Für den Flaneur weist das Werk skulpturale Qualitäten auf. Das merkt nur der Fussgänger, die Autofahrer konzentrieren sich auf Rot-Gelb-Grün an den stählernen Armen. Wäre es nicht die Arbeit eines Ingenieurs, sondern die eines Künstlers, und wäre die Stahlkonstruktion ohne Lichter und Ortstafeln behängt, würde man von einem Kunstwerk sprechen und dies am Fuss benennen. Das führt zu interessanten Fragen: Wann wird etwas Kunst? Wann bleibt etwas technische Konstruktion? Warum verliert ein gestaltetes Werk die Aureole von Kunst? Die Personen, welche diesen Signalmast realisierten, verdienen es, genannt zu werden: Ingenieur Eduard Imhof als Entwerfer, Stephan Etter als Statiker, Meyer Stahlbau Emmen als Hersteller. Der Signalmast an der Brücke ist Kandidat für das nächste kantonale Denkmalverzeichnis.

Signalmast am Anfang der Reussbühlbrücke.  Foto: zvg

Beim Protokollieren des Spaziergangs hört der Flaneur aus dem Regionaljournal, dass das LUKS 39 Mio. Franken vom Kanton erhalten soll. Wegen der Pandemie konnten weniger Patienten operiert werden, was zum Betriebsdefizit führte. Der Laie wundert sich.

Karl Bühlmann Foto: Joseph Schmidiger

6. August 2021

Zur Person: 
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.

karl.buehlmann@luzern60plus.ch