Die Weggisgasse, einst städtisches Paradies für Landkinder.

Bibergeil fürs Zeughaus auf Musegg

Von Karl Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bilder)

Wir gehen in die Stadt! Das bedeutete für den Erstklässler so viel wie Wir gehen in die Weggisgasse. Unendlich lang schien die Gasse mit den links und rechts aneinandergereihten Geschäften mit den Schaufenstern, wo glänzte und verlockend ausgestellt war, was der Dorfladen nicht führte. Auch die Rössligasse oder die Hertensteinstrasse, alles in einer Linie, waren für das Landkind einfach «Weggisgasse». Was sich später, beim Kennenlernen der Stadtgeschichte, nicht als falsch erweisen sollte. Die Hertensteinstrasse war im Mittelalter die «äussere Weggisgasse». Im Uni-Seminar von Professor Adolf Reinle selig, einst luzernischer Denkmalpfleger, lernte ich, dass «Weggisgasse» herkunftsmässig nichts mit Weggis und den Marktfahrern von dort zu tun hat. In einem Hofrecht von 1291 ist von «Wotgusse» die Rede und das bedeutet Überschwemmungsgebiet. Und 1376 heisst die Strasse «am wegus», was volksetymologisch als am Weg uss heisst.

Asklepios, Gott der Heilkunde.

Somit wäre das geklärt, und ich stehe am Falkenplatz, wo die Gasse beginnt. Ein Blick nach oben zur Fassade der Stirnseite zeigt Asklepios, Gott der Heilkunde, die Natter um den Arm geringelt – Hinweis auf die einstige Apotheke im Haus. Hans Zürcher malte den Sohn Apollons mit einem gewaltigen Prügel auf der Schulter, als gehe dieser statt zu einem Kranken geradewegs zur Schlacht am Morgarten. Nach hundert Jahren hat die traditionsreiche Falkenapotheke dicht gemacht. Am Eingang macht ein Zettel aufmerksam, dass auch das Tattoo & Piercing Studio wieder auszieht und man The New Expression of Personality sich jetzt in Zürich stechen lassen kann.

Der nächste Blick schweift nach rechts, über den Löwengraben hinweg, zum schmiedeeisernen Tor und klassizistischen Gebäude des Bezirksgerichts. Wer denkt daran, dass dort von 1844 bis 1918, bis zum Umzug in den Hirschengraben, das Stadthaus war, mit Kanzlei, Kasse, Buchhaltung, Steueramt, Arrestlokal und Büro des Stadtpräsidenten? Seit Jahren ist der Ort wegen eines höchst umstrittenen Themas im Gespräch: Hier könnte, meinen die Initianten, der Ein- und Ausgang für Fussgänger zum Parkhaus Musegg zu stehen kommen. Die Nutzung des Hügels als Parkhaus ist nichts Neues: Schon zu Beginn der Fünfzigerjahre hatte Architekt August Boyer das Projekt eines Parkstollens entwickelt, mit Portalen am Museumsplatz und bei der Geissmattbrücke, mit unterirdischen Lagerräumen auch für Altstadt-Geschäfte. Das mehrfach überarbeitete Projekt verschwand 20 Jahre später in einer Schublade im Stadthaus. Die künstliche Höhle für Autos ist heute eine Glaubensfrage. Für die Verneiner ist die Musegg heiliger Bezirk geworden, die Unantastbarkeit gottgegeben wie im Mittelalter das Verbot, den Pilatus zu ersteigen, weil durch die Störung der Totenruhe des erdichteten Pontius Pilatus der Stadt die schlimmsten Unwetter drohten. Die Berge und Hügel in der Schweiz mögen von 1200 Tunnels und Parkhäusern durchlöchert sein – Luzern bohrt für SBB-Linien und Velo-Abstellplätze und überlässt den Musegg-Buckel der gemeinen Wühlmaus.

Seit 65 Jahren winkt vom Eckhaus Grendel-Weggisgasse aus luftiger Höhe die Sandalenbinderin von Roland Duss. Die Skulptur aus Bronze erinnert an das Schuhhaus am gleichen Platz, in das die Kinder die Eltern zerrten, weil es dort die längste Indoor-Rutschbahn der Stadt gab. Mich zogs zur Konkurrenz, wo beim Anprobieren der Schuhe, die Mutter, die Verkäuferin und ich gleichzeitig durch drei Okulare des Röntgen-Guckkasten schauen konnten. Die Röntgenstrahlen leuchteten Leder und Fleisch hindurch und zeigten auf giftgrünem Glas die Zehenknöchelchen. Die Prozedur war entscheidend für den Kauf: Stimmt die Passform, haben die Zehen genügend Bewegungsfreiheit – und vor allem, ist der Kauf dem Portemonnaie zu verantworten, sind die Schuhe gross genug für die nächsten Jahre? Pedoskope hiessen die Apparate zur Verkaufsförderung, die gleichzeitig die Herumstehenden unkontrolliert der Röntgenstrahlung aussetzen, weshalb die Geräte später verboten wurden. Die komische Krümmung meiner grossen Zehen laste ich diesem Durchleuchten an, leider ist der Fall versicherungstechnisch verjährt. Im nahen Kleidergeschäft durften die Jugendlichen mit dem Luftgewehr auf Scheiben schiessen und Preise gewinnen. Undenkbar heute, ein Komitee Stopp der Militarisierung unserer Kinder würde den Eingang blockieren.

Mädchen mit Hund. Wer war der Bildhauer?

Wo heute Money Bank und Star Tattoo und Asien Esskultur werben, stieg man früher ins Café Moccaraba hoch. An Samstagen warteten dort die etablierten lokalen Künstler, von Max von Moos, Roland Duss bis Alfred Sidler, auf den Kunstsammler Godi Anliker. Um die Ecke am Theilinghaus vorbei, wird auf der  Fassade die Geschichte des in Zürich zu Tode gekommenen Raufboldes Frischhans Theiling erzählt. Es folgt das Manor-Warenhaus, von vielen immer noch der Nordmann genannt. Dem Konsumtempel musste das reich geschmückte Bossardhaus aus dem 17. Jahrhundert weichen. 1913 war es von Kaufmann Sally Knopf aus Freiburg im Breisgau erworben und abgerissen worden. Das war eine Bausünde erster Klasse für das Ortsbild. Die Stadt hätte das Gebäude zum gleichen Preis wie Knopf kaufen können, für 300'000 Franken, doch das finanzielle Opfer war dem Stadtrat zu gross. Die Luzerner Architekten Friedrich Krebs und Alfred Möri bauten das Warenhaus, das seither mehrmals erweitert wurde und sich über mehrere Parzellen erstreckt. Vor der Nummer 14 pflegt der Flaneur in die Höhe nach der Steinskulptur Hund und Mädchen und der Inschrift zum Nägeli 1925 zu blicken. Er hat bisher nicht herausgefunden, wer Bildhauer und wer Besteller war, was es mit dem steinsteif berockten Mädchen mit dem seltsamen Werkzeug – oder einem Strauss Nelken? – für eine Bewandtnis hat. Kann jemand helfen?

Wandmalerei Sterngucker am ehemaligen Optiker-Baume-Haus.

Die Fassadenmalerei an der Weggisgasse 21 erklärt sich dank der Inschrift Optisches Institut von selbst: Der Sterngucker von 1912 weist auf die Werkstatt von Vater und Tochter Friedinger hin, die hochwertige Geräte der Optik und Feinmechanik herstellten. Nachfolger Baume gab das Geschäft 2012 auf, jetzt werden Sneakers verkauft, im nächsten Haus Foot Locker. Zahlreiche Branchen sind aus der Weggisgasse verschwunden. Mode, Schuhe, Kosmetik, Uhren und Brillen dominieren, kein Seinet-Feinkost, Bannwart-Sport, Dudle-Confiseur mehr. Dafür Yoga mit Herz, Body Forming, Tätowierungen, Fussreflexzonentherapie, Volles und gesundes Haar in kurzer Zeit. Wer beim Eckhaus von «Uhren-Kurz» den Kopf in den Nacken legt, liest unter dem Vordach den Sinnspruch: Ehre stets der Väter ehrsam Handwerk. Die Wurzel ist des Baumes grösste Stärke. An der Hauskante wacht der Drachentöter Georg über die Passanten. Der historische Bilderschmuck um die Ecke im «Werchlaubengässli» ist irgendwann übermalt worden. Das von Pöldi Häfliger gemalte Trio Tambourmajor und Hornbläser an der Hausmauer weiter hinten ist kein Ersatz. Die jungen Leute, die sich an der Ecke vor der Corona-Teststation die Beine vertreten, schauen in Smartphones und nicht aufs Wandbild. Unter dem Haus «Werchlaube 29» führt der direkte Weg auf den Kornmarktplatz. Einst war hier ein städtisches Salzlager, später wurden zwei Jahrhunderte lang Textilien gelagert und gehandelt, daher der Name Werch- oder Tuchlaube, nochmals später amteten dort die Einwohnerkontrolle, der Friedensrichter und Gantrufer. Der jetzige Bau stammt, die Architektur verräts, aus der Neuzeit, weshalb sich der Stadtarchivar bemüssigt fühlte, zu schreiben, das Haus dürfe den zweifelhaften Ruf in Anspruch nehmen, das erste Altstadthaus mit Flachdach gewesen zu sein. Das ursprüngliche Aussehen bewahrt, mit Ausnahme der Geschäftsschaufenster im Erdgeschoss, hat das erkerbewehrte Fideikommiss-Haus der Patrizier-Dynastie Göldlin-von Tiefenau, Baujahr 1524. Sollte ausnahmsweise die Haustüre einmal offenstehen, unbedingt einen kurzen Blick in den Säulenhof werfen, man fühlt sich in italienische Renaissance versetzt. Witzigerweise folgt auf den Prachtbau das schmale spätgotische Klein-Häuslein für einfache Bürgersleute.

Als kämen sie aus dem Desaster an der Beresina zurück.

Hier am Hirschenplatz endet die Weggisgasse. Nur 250 Schritte lang war der Weg, bevor die Rössligasse beginnt, eine schmale Flucht von beidseitig ebenfalls mehrhundertjährigen Bürgerhäusern mit gleichmässig kleinen Fenstern. Der Menschenauflauf nötigt zum rechtzeitigen Ausweichen vor den entgegenkommenden Individuen. Beim Jungvolk bleibt des Flaneurs Blick häufig bei den Knien hängen. So eine kurze Bummelei, aber so viele schlotternde Jeans an Mädchenbeinen, auf Kniehöhe zerschnitten, zerfleddert und zerlumpt, als kämen die Trägerinnen eben aus dem Desaster an der Beresina zurück! Ich beschliesse, den Weg fortzusetzen, zum Mühlenplatz hinunter und von dort zum ehemaligen kantonalen Zeughaus in der Museggstrasse 37. Der Regierungsrat hat den grössten erhaltenen barocken Magazinbau zum neuen Standort für ein interdisziplinäres Museum über Gesellschaft und Geschichte vorgeschlagen. Erbaut 1684-1686 wurde im imposanten vierstöckigen Bau zuerst Korn, dann Salz, ab 1818 militärisches Material aufbewahrt, Uniformen und Waffen. Der Flaneur tauschte dort vor einem halben Jahrhundert die zu klein gewordenen tannigen Hosen gegen grössere um und deponierte vor Auslandaufenthalten das Gewehr. Heute sind die Dienststelle Volksschulbildung und die Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen im einstigen Hauptquartier des Kriegskommissariats untergebracht.

Altes Zeughaus an der Museggstrasse.

Von der Spreuerbrücke bis zum Zeughaus sind es 400 Schritte, der Puls ist wegen des steilen Aufstiegs angestiegen. Freiwillige Museumsbesucher sind, milde gesagt, meist gesetzteren Alters – wird es also E-Bikes, E-Rollatoren, E-Rollstühle für die Besucher geben? Auf der Anhöhe fallen mir reichlich Ideen für eine andere Nutzung des Gebäudes ein: Das Erdgeschoss wird zum Transparente-Magazin für die Klimajugend (Biozid-Ökozid-Genozid. Oder: Bildung für Alle – auch für das Virus). Im zweiten Geschoss hat es Stangen, an denen die Freiheitstrychler zwischen zwei Buebezügli die aus Blech gehämmerten Schellen aufhängen und (Sigolin putzt alles) auf Hochglanz polieren könnten. Das dritte Geschoss würde zum Quarantäne-Massenlager, vorbehalten für Corona-Infizierte, die aus Opposition gegen die Impf-Diktatur die Piks verweigern. Im vierten Stockwerk richten die neuen Freischäler ihre Mobilmachungsbüros ein: FTP (Freiheitstrychler-Partei), MVP (Mass-voll-Partei), KIZAP (Kein Impfzwang-Aktion), SVB&Co (Schutz vor Berset und Konsorten).

Der Flaneur sucht das Weite. Zurück auf den Mühlenplatz, am Haus des letzten Stadtmüllers namens Josef Troxler vorbei, über die Krongasse auf die andere Seite der Reuss. Das einstige Jesuiten-Gymnasium, Staatsarchiv, heute Sitz des kantonalen Bildungs- und Kulturdepartments, ist eingerüstet. Zu meinem Verdruss von jener lokalen Gerüstfirma, die es überall nötig findet, mit ihrem stets dutzendfach aufgeführten Namen das Ortsbild zu verunzieren. Zu meiner Freude sind die sinnreichen Leitsprüche auf der Rückseite des Gebäudes, links und rechts der Arkade, weiterhin lesbar: Schaffen und Streben ist der Götter Gebot. Arbeit und Leben. Nichtstun der Tod.

Ein Topf mit Castoreum in der Suidterschen Apotheke.

So aufgemuntert gehts zur Suidterschen Apotheke. Am Anfang des heutigen Bummels stand eine Apotheke a. D., den Abschluss macht die älteste und noch geöffnete Apotheke in der Stadt. Ich schaue durchs linke Schaufenster in die mittelalterliche Arznei-Wunderkammer und lese mich durch die aufgereihten Behälter, bis zum Topf mit der Aufschrift Castoreum. Das passt zum Finale! Der Duftstoff, zu Deutsch Bibergeil genannt, ist ein stark riechendes, bitter schmeckendes Sekret. Bibermännchen und -weibchen markieren damit ihr Revier. In der alten Heilkunst, lange vor den Impfungen, wurde das Mittel von den Salbadern bei allerlei Beschwerden und Krankheiten eingesetzt, gegen Verstopfung, Hysterie, Schwerhörigkeit, Blindheit u. a. m. Falls das Zeughaus auf Musegg künftig so genutzt würde, wie der Flaneur sich das erdachte, gehörte das Bibergeil als tierisches Aspirin in den dortigen Medizinschrank. Mit der gelblichen Paste lassen sich nicht nur die Riemen der Trychlen einreiben und geschmeidig erhalten. Eine Prise unter die Nase und ein Gran in jede Achselhöhle halten prophylaktisch jedes Virus und Zertifikat fern. Der Glaube versetzt Berge, nicht aber die Musegg.

26. September 2021 – karl.buehlmann@luzern60plus.ch