Ruedi Fahrni, Leiter Pro Senectute Luzern.

«Ich gehe Probleme mit Lust an, da es zu meiner Profession gehört»

Ruedi Fahrni leitet seit fünf Jahren Pro Senectute Luzern und berichtet im Interview von seiner Arbeit. Pro Senectute Luzern ist schweizweit mit einem neuen Angebot unterwegs: das «angehörigenorientierte Unterstützungssystem».

Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Herr Fahrni, was dominiert in der Beratungsarbeit und Hilfestellung aktuell bei Pro Senectute Luzern?
Ruedi Fahrni: Die finanzielle Situation von älteren Frauen und Männern ist unser Dauerthema und damit ein wichtiger Teil der Sozialberatung. Und dies nicht etwa Corona-bedingt. Die Gründe sind so vielfältig wie das Leben an sich: Es braucht Ergänzungsleistungen (EL), weil AHV und 2. Säule nicht ausreichen, sofern eine Pensionskasse überhaupt besteht. Wer dann EL bezieht, gerät in eine höhere Steuerbelastung. Ungemütlich wird es auch für Menschen, die ein bestehendes Vermögen aufgebraucht haben, was im hohen Alter zur Belastung werden kann. Auch der Verlust von Lebenspartnern kann die Finanzlage verändern. Plötzlich kann der alleinstehende Mann oder die Frau die Wohnung nicht mehr allein bezahlen. Auch unerwartete Ausgaben können das Budget belasten. Dann muss unsere Sozialberatung Lösungen finden. Im Vordergrund stehen Aufwendungen im Gesundheitsbereich: Zahnarztkosten etwa, eine neue Brille, ein Hörgerät. Da können schon 300 Franken plötzlich zu einem grossen Problem werden. Kostspielige Umzüge, oder ein Tierarzt für das Haustier. Ins Gewicht fallen auch Transportkosten für Frauen oder Männer, die wöchentlich irgendwo zur Therapie fahren müssen.  

Wer nimmt sich bei Pro Senectute dieser vielschichtigen Probleme an?
Das sind vorwiegend unserer Sozialberater und Sozialberaterinnen, die Lösungen suchen und in der Regel auch finden. Da versuchen wir zuerst Finanzierungen in die Wege zu leiten, zum Beispiel über Krankenkassen, Hilflosenentschädigungen, über Stiftungen, Pro-Senectute-Fonds oder über das Gutscheinsystem der städtischen Fachstelle für Alter. Den grössten Teil unserer finanziellen Unterstützungen können wir jedoch über den AHV-Fonds leisten. Wir können da situationsbedingt individuelle Finanzhilfen ausrichten, oft sind es mehrere tausend Franken.

Wie viele Sozialberater:innen sind bei Pro Senectute im Einsatz für diese Hilfeleistungen?
Das sind 20 ausgebildete Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Die meisten Beratungen finden im direkten Kontakt auf der Geschäftsstelle in Luzern, in Willisau oder in Emmen, oder allenfalls auch zu Hause bei den Klienten, Klientinnen statt. Zusätzlich verfügen wir über elf Beratungsbüros im ganzen Kanton, Räume, die uns die Spitex oder Gemeindeverwaltungen gratis zur Verfügung stellen. Auf diese Weise können wir eine für betagte Menschen beschwerliche Anreise verkürzen, zum Beispiel von Flühli nach Willisau. Zusätzlich bieten wir für Personen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen können aufsuchende Beratung an. Es kann für eine Sozialarbeiterin auch wichtig sein, die näheren Lebensumstände einer Person vor Ort zu erfahren, um zu erkennen, ob die Lebenssituation durch gezielte Massnahmen verbessert werden kann

Welche Rolle spielen im gesundheitlichen Bereich die psychischen Probleme? Bei finanziellen Problemen können auch solche Belastungen eine Rolle spielen.
Im Grundsatz sind wir für medizinische und psychologische Fragen nicht zuständig, stellen aber die Triage zu den Fachstellen sicher. In den regionalen Anlaufstellen 65plus gibt es solche Situationen. Was aktuell überrascht: Wir stellen auch hier keine Corona-bedingte Zunahme fest. Was aber zugenommen hat: Die Wartezeiten für psychologische oder auch psychiatrische Beratungen betragen gegenwärtig oft mehrere Monate.

Was wir zunehmend feststellen, ist die Befürchtung von älteren Menschen, sie könnten ihren Angehörigen zur Last werden. Aus diesem Grund haben wir uns in diesem Jahr entschlossen, für betreuende und pflegende Angehörige ein spezielles Angebot zu schaffen, um konkrete Unterstützung anbieten zu können. Wir nennen es, «angehörigenorientiertes Unterstützungssystem». Wir haben dafür eine Teilfinanzierung von Bund und Kanton zugesichert bekommen. Damit sind wir gesamtschweizerisch mit einem neuen Angebot unterwegs. Die Beratung allein reicht nicht mehr. Es gibt Betreuungspersonen, die in Situationen geraten, wo sie sich als überfordert erleben. Es braucht eine Art von Case Manager, der die Angehörigen an der Hand nimmt und durch den Dschungel der Beanspruchungen führt. Ich sehe eine grosse Notwendigkeit für dieses neue Engagement.

Eines der Angebote startet im März 2022. In Zusammenarbeit mit dem SRK haben wir zwei Kurse aufgebaut. Ein Kurs richtet sich an betreuende Angehörige. Ein weiterer Kurs technischer Art, ebenfalls vom SRK aufgegleist, richtet sich an pflegende Angehörige. Dabei geht es zum Beispiel um das Waschen eines Kranken, um seine Lagerung oder um die richtige Einführung eines Katheders.

Konzentrieren sich diese Kursangebote eher auf die Landschaft oder auf Stadt und Agglomeration?
Wir spüren Unterschiede beim Bedarf an Unterstützung. Auf der Landschaft sind Unterstützungssysteme durch Angehörige eher noch intakt. Man wohnt im gleichen Dorf, Eltern und Kinder sind in der Nähe. Anderseits wartet man auf der Landschaft länger, bis man Hilfe in Anspruch nimmt. Wir stellen auch fest, dass wir auf dem Land weniger Klientel haben als in Stadt und Agglomeration. Die Beratungsstunden jedoch sind in etwa gleich. Mit anderen Worten, die Situation einer Person auf der Landschaft ist oft schwieriger, weil man zu lange zugewartet hat, um Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Stichwort Einsamkeit – erleben sie entsprechende Situationen bei alten Menschen?
Das ist ja aktuell ein grosses Thema, vor allem medial. Wir meinen, die Problematik habe sich nicht besonders zugespitzt. Neu ist der Bezug zur Einsamkeit: man redet inzwischen davon, sowohl bei den Betroffenen als auch in der Öffentlichkeit. Das Problem ist zweifellos da. Ich befürchte auch, dass wir mit unseren Dienstleistungen nur einen kleinen Teil dieser Personen erreichen können. Da muss zuerst ein Vertrauensverhältnis zwischen den Mitarbeitenden und den betroffenen Menschen aufgebaut werden. Es ist sehr selten, dass jemand, der sich einsam fühlt, mit diesen Fragen an uns gelangt

Das liegt auf der Hand. Es braucht Mut oder eine Form von Verzweiflung bis jemand von diesem Anliegen spricht.
Sicher. Darum hat ein Mitarbeiterteam das Thema aufgegriffen und überlegt, wie wir an einsame Frauen oder Männer herankommen können. Es sind Ideen da. Wir suchen noch die notwendige Finanzierung und Freiwillige, die mitdenken und mitmachen möchten.

Stichwort Digitalisierung: Ein Teil der Alten wird zunehmend ausgeschlossen oder stehen gelassen.
Das ist eines meiner Lieblingsthemen. Die Entwicklung bereitet uns Sorgen. Eine aktuelle schweizerische Studie der Pro Senectute sagt aus, dass die 65- bis 69-Jährigen zu 95 Prozent das Internet nutzen. Das ist erfreulich, sieht aber bei den älteren Jahrgängen sofort anders aus. Bei den 80-Jährigen sind es nur noch 54 Prozent. Das ist tragisch, weil die analogen Angebote im täglichen Leben rasant abgebaut werden. Die betroffenen Seniorinnen und Senioren verlieren dadurch jegliche Selbständigkeit. Wir haben zwar Angebote, um da den Anschluss nicht ganz zu verlieren. Es gibt Computer- und Handykurse und anderes in dieser Richtung. Aber das kann ja nicht die Lösung sein. Nehmen wir das aktuelle Beispiel mit den Anmeldungen zur Corona-Impfung. Was machen die Leute ohne Internet? Pro Senectute hat knapp dreitausend Anmeldungen gemacht. Das ist aufwendig. Oder die Wohnungssuche. Das ist heute ohne Internet gar nicht mehr möglich. Da können unsere Wohncoaches helfen, wenn sie angefragt werden. Auch das kann aufwendig werden.

Hätten Stadt oder Kanton die Anmeldung zur Impfung nicht einfacher aufgleisen können, für all jene, die noch analog unterwegs sind?
Schwierig zu sagen. Ich kann nur feststellen, dass unsere Zusammenarbeit mit dem Kanton gut funktioniert hat.

Was mich etwas bedrückt hat, war die Situation für ältere Menschen bei der Booster-Impfung auf der Allmend. Kürzlich an einem Vorabend, dunkel, etwa halbsechs. Es schneit leicht. Eine ältere Frau an zwei Stöcken verwechselt Ein- und Ausgang beim Impfzentrum. Soweit höflich aber doch deutlich wird sie zurechtgewiesen: «Der Ausgang ist dort drüben.» Sie geht mühsam zurück und nimmt den andern Weg. Draussen suchen zwei ältere Paare langsam den Weg zum Impfzentrum, eine Frau stützt den Mann. Alle sind nicht mehr gut zu Fuss. Beim Impfschiff stehen hundert Personen an. Meine Frage dazu: Warum konnte man diese dritte Impfung im Christmonat nicht beim Hausarzt oder in der Apotheke machen? Was ist daran so kompliziert?
Das ist eine Zumutung für ältere Menschen. Es gäbe andere Wege. Warum zum Beispiel kann ein Arzt, eine Ärztin als Vertrauensperson den älteren Patienten nicht in der Praxis ansprechen und fragen, ob er gleich die 3. Impfung machen möchte?

Die digitale Welt ist das Eine, stellen Sie heute noch andere Benachteiligungen der älteren Generation fest?
Je nach dem. Allfällige Benachteiligungen sind sehr unterschiedlich und ergeben sich aus der jeweiligen Lebenssituation. Ein trauriges Beispiel sind Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben und dennoch reicht die Rente kaum zum Überleben. Nichts desto trotz haben wir in der Schweiz hervorragende Unterstützungssysteme, die viele wichtige Bedürfnisse von Seniorinnen und Senioren abdecken.

Entspricht die Führungsaufgabe, die sie vor fünf Jahren bei Pro Senectute Luzern angetreten haben, in etwa ihren Erwartungen?
Ich stelle hohe Ansprüche an mein berufliches Wirken und mein Umfeld. Ich liebe die Herausforderungen im Fach- und Managementbereich und gehe auch Probleme mit Lust an, da es zu meiner Profession gehört. Dazu brauche die Kompetenz und den Freiraum, um zu handeln, zu entwickeln und zu gestalten. Auch wünsche ich mir beherzte Diskussionen, insbesondere mit meinen direkt unterstellen Mitarbeitenden, dem Stiftungsrat und auch mit unseren Auftraggebern wie Kanton und Gemeinden. Die Antwort auf ihre Frage lautet also: Ja, die Aufgabe entspricht zu 100 Prozent meinen Erwartungen. Denn es gibt nichts Schöneres, als den Alltag für Menschen im Kontext von Pro Senectute zu gestalten.

Hat Sie etwas überrascht?
Überrascht hat mich nach dem Start vor fünf Jahren die unglaubliche Vielzahl an Dienstleitungen, die hoch motivierte und fachlich hervorragend ausgebildete Mitarbeitende anbieten. Sehr gefreut hat mich in diesem Zusammenhang, dass wir uns trotz der zahlreichen Angebote nie verzettelt haben. Wir sind unseren Zielen und der Zielgruppe, wonach wir uns für ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben von älteren Menschen einsetzen, treu geblieben.

28. Dezember 2021 – rene.regenass@bluewin.ch

 

Zur Person
Nach einer Lehrausbildung zum Elektriker bildete sich Ruedi Fahrni im Ingenieurwesen und später in Betriebswirtschaft weiter. Seine beiden Masterabschlüsse «Management im Gesundheits- und Sozialwesen» sowie «International Management in Non-Profit-Organisation» absolvierte er an den Hochschulen Luzern und Freiburg im Breisgau. Seine meist leitenden Funktionen begann er in der Privatwirtschaft, danach war er als Geschäftsleiter in gemeinnützigen Organisationen sowie bei kantonalen Verwaltungen, zuletzt als Leiter des Asyl- und Flüchtlingswesen des Kantons Luzern, tätig.