Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Wenn Medien «Geschichte» schreiben

Von Meinrad Buholzer

Mein Eindruck: Leute, die seit Jahren oder Jahrzehnten kein Geschichtsbuch aus der Nähe gesehen haben, greifen besonders gerne darauf zurück – metaphorisch gesprochen. Dann wird das Unzulängliche Ereignis... Doch ich greife vor.

Jahreszahlen und Daten im Geschichtsunterricht haben ein mieses Image. Sinnloses Zahlenbeigen! Einfältiges Auswendiglernen! Substanzlos! Wichtiger, so der Einwand, sei doch der Inhalt. Wer so argumentierte, hatte immer eine Mehrheit auf seiner Seite. Der es aber mehrheitlich auch nicht um den Inhalt ging, sondern um ihre Bequemlichkeit.

Nur sind Daten der Geschichte eben nicht nur Zahlen. Sie lassen Ereignisse und Personen in einem grösseren Zusammenhang erkennen, verschaffen Überblick über Entwicklungen, können helfen, Fort-Schritte zu deuten, geben eine Vorstellung von Epochen und – wichtiger noch – Zeit und Zeitlichkeit. So kann Numerisches in Qualität umschlagen. Doch der Geschichtsunterricht ist in der Defensive. Historisches Wissen ist der Klotz am Bein der von pausenloser Optimierung und Fokussierung Getriebenen. So genannte pädagogische Gremien denken ernsthaft über die Abschaffung nach (auch die Pläne der Luzerner Regierung zur Schliessung des Historischen Museums darf man im weitesten Sinne zur grassierenden Geschichtsvergessenheit zählen).

Das rächt sich. Das Wissen und die Ahnung von geschichtlichen Prozessen erodiert rapide. Journalisten wissen oft noch knapp, was (im übertragenen Sinn) gestern passiert ist, vom Vorgestern haben sie in der Regel keine Ahnung. Umso mehr schwelgen sie Tag für Tag in Superlativen und wir müssen hören oder lesen, wer (oder was) wieder der Schnellste, der Grösste, der Beste, der Teuerste usw. ist. Beliebt ist der Zusatz «aller Zeiten» – aber wer so was schreibt, hat weder von Zeit noch Zeiten eine Ahnung. Hier hat sich längst das «Guinness-Buch der Rekorde» als Leitmedium etabliert und die Geschichtsbücher verdrängt.

Im letzten Jahr waren die geschichtsvergessenen Rekurse auf die Geschichte besonders inflationär. Während eines grossen Fussballturniers berichtete man rund um die Uhr von historischen Ereignissen, von Einschreibungen in die Geschichtsbücher (und von der Welt, die auf die kleine Schweiz schaue – bei der EM? Wirklich?). Inzwischen ist auch eine Leichtathletin mit journalistischem Support in die Geschichtsbücher gespurtet. Dann las ich, dass die Rückkehr von ABBA in die Geschichtsbücher eingeht. Kürzlich wurde Thomas Gottschalk dank «Wetten, dass...»-Recycling zu Ehren der Geschichtsbücher erhoben. Wiederum Fussballgeschichte: Trainer Celestini hat sie geschrieben, als er den FCL zum Cupsieg führte, aber nur bis der Club ihn fallen liess (das, zur Abwechslung mal, keine Geschichtsschreibung). Und gerade eben wurde Beat Feuz der schnellste Skifahrer der Geschichte. Die Aufzählung ist nicht vollständig, aber sie zeigt, wie in Redaktionen heute Geschichte verstanden wird. Inkompetenzkompensationskompetenz nannte der Philosoph Odo Marquard solche Praxis. 

Früher überliess man der Geschichte bzw. der Zeit, was sich halten konnte, was also in die Geschichte einging oder was sang- und klanglos verschwand (na gut, ABBA nicht ganz sang- und klanglos). Historiker bemühten sich dann, den Vorhang zu lüften. Heute behaupten Medienschaffende – mit permanent um tagesaktuelle Banalitäten kreisendem Tunnelblick – geschichtliche Ereignisse. Und sind überrascht, wenn Geschichte sich tatsächlich ereignet.

Der Schaden, den sie anrichten, ist freilich überschaubar. Denn sie wenden sich an und munitionieren ein Publikum, das genauso so kurzfristig (oder wollen wir hier das zeitnahe Adjektiv «zeitnah» verwenden?) denkt und schon morgen nicht mehr weiss, was es heute gelesen hat. So was nennt man heute «informierte Konsumenten». Bildung wäre etwas  anderes.

15. März 2022 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch


Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die «Luzerner Neuesten Nachrichten» LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.