Ernst Odermatt, pensionierter Berufsschullehrer, Truschky, Ukraine, und Ennetbürgen, Schweiz.

Plötzlich bist du Flüchtling

Neunundsiebzig Stunden war der 79-jährige pensionierte Berufsschullehrer Ernst Odermatt mit seinem Auto unterwegs auf der Flucht – vom Krieg in der Ukraine zurück nach Luzern und Nidwalden. Vor zehn Jahren war der passionierte Orientierungsläufer mit seiner ukrainischen Ehefrau in deren Heimatland ausgewandert und hatte in einer beschaulichen Gegend südlich von Kiew ein Haus gebaut: Es wurde ihr Alterssitz – bis Putins Krieg kam. Der Nidwaldner berichtet von seiner Fahrt durch das kriegsversehrte Land und er schildert den Kriegsalltag seiner Frau, um die er sich Sorgen macht. Sie wollte unbedingt in der Ukraine bleiben, weil sie so am besten andern helfen könne.Von Max Schmid (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Am Anfang stand das grosse Grundstück, direkt an einem kleinen idyllischen See, das zum Verkauf stand. In der Schweiz wäre das für sie unbezahlbar gewesen, sagt Ernst Odermatt. In der Ukraine sei der Preis um ein Vielfaches tiefer gewesen. Die Aussicht, in dieser herrlichen Landschaft zu leben, sei für seine Frau und ihn die Hauptmotivation gewesen für einen Neuanfang in der Ukraine. Dann kam der Bau des einstöckigen Hauses, den der «Tausendsassa Ernst Odermatt» (so die «Luzerner Zeitung», die den sportlichen Auswanderer 2018 porträtiert hatte) selber geplant und mit einem Helfer gebaut hat. «Ich habe damals, als wir einzogen, gesagt, wenn wir nur schon zwei Jahre hier leben können, haben sich die Mühen gelohnt. Jetzt wohnen wir schon sechs Jahre dort»

Es ist besser, gerüstet zu sein
Sicher sein, dass die Verhältnisse in der Ukraine auf längere Sicht stabil bleiben würden, konnte Odermatt nicht. Seine neue Heimat ist ein Land im Umbruch und seit 2014 auch ein Land im Krieg. Odermatt hat damals den Euromaidan miterlebt, den Aufstand gegen den prorussischen Präsidenten Janukowitsch und für eine Annäherung an die EU, den Putin zum Anlass nahm, um die Krim zu annektieren. Der Schweizer hat die omnipräsente Korruption in der Ukraine kennengelernt, gegen die  der jetzige Präsident Selenski noch wenig tun konnte.

Er glaubt, Selenski habe Putin «ziemlich gereizt mit seinem Ruf nach der Nato und der EU». Dass allerdings ein russischer Angriffskrieg der Plan Putins sein könnte, das hätte er nicht erwartet. «Den Aufmarsch von russischen Truppen und die Panzerkolonnen an den Grenzen der Ukraine habe ich als Drohgebärde eingeschätzt, die Putin allenfalls in kommenden Verhandlungen als Pfand einsetzten könnte. Doch mit der Zeit kamen mir Zweifel. Ich dachte, es kann doch nicht sein, dass die dort umsonst monatelang warten. Besser ist es, für alle Fälle gerüstet zu sein. Und so habe ich damit begonnen, Benzin in Kanister abzufüllen für einen Stromgenerator und das Auto.»

Vorsichtig, vorausschauend, zielgerichtet
Vielleicht zeigt sich in dieser Haltung der vorsichtige pragmatische Schweizer, der  Odermatt auch in der ukrainischen Provinz geblieben ist. Oder vielleicht der vorausschauende ehemalige Fallschirmgrenadier der Schweizer Armee. Oder aber der zielgerichtete Orientierungsläufer, jener Ernst Odermatt, der 2015 Senioren-OL-Weltmeister in der Sprint-Distanz geworden ist und 2018 – nach einer Wettkampfpause von drei Jahren wegen dem Hausbau – in Dänemark Dritter wurde. Auf jeden Fall konnte er diese Qualitäten brauchen, bei dem, was ihm und seiner Frau nach den Ereignissen am Morgen des 24. Februar 2022 bevorstand.

Truschky, ihr Dorf mit 1500 Einwohnern, liegt 80 Kilometer südlich von Kiew und 15 Kilometer südlich von Bila Zerkwa, der nächsten Stadt, also recht weit entfernt von den aus Norden vorrückenden russischen Panzerverbänden. Bila Zerkwa hat allerdings einen militärischen und zivilen Flugplatz. Und genau der wurde in den ersten Stunden des Krieges bombardiert. Um halb sechs seien sie vom gewaltigen Bombenlärm aufgeweckt worden. Ernst Odermatt hat gezählt: «Sieben Explosionen, der Flammenschein sichtbar auch in Truschky – eine traumatische Erfahrung. Ich wusste sofort, jetzt hat der Krieg begonnen.»

Flüchten oder bleiben?
Es folgen weiter Bombenangriffe in Bila Zerkwa unter anderem auf ein Munitionslager, eine Truppenunterkunft und ein Aussenquartier. Diese stellen das Ehepaar vor schwere Entscheidungen: Ludmila, die in der Ukraine erwachsene Kinder aus erster Ehe hat, möchte bleiben. Bleiben, weil sie hier helfen kann und helfen möchte. Ernst, der Ausländer, befürchtet baldige geschlossene Grenzen und unterbrochene Verbindungen, die dazu führen könnten, dass irgendwann das Geld ausgeht. Schlussendlich akzeptieren beide, dass sie bleibt und er geht.

Ludmila nimmt Kontakt mit einem Netzwerk auf, um andern, die flüchten möchten, eine Mitfahrgelegenheit bis zur polnischen Grenze zu vermitteln. Und so holt Ernst Odermatt eine junge Familie mit einem Säugling und einem vierjährigen Buben in Bila Zerkwa ab. Dabei stösst er zum ersten Mal auf riesige Autokolonnen von Flüchtenden. Es ist der vierte Kriegstag: Hunderttausende sind bereits auf der Flucht. Die meisten fahren wie Ernst Odermatt und seine Fahrgäste Richtung Lviv (deutsch: Lemberg) und nach Ungarn oder Polen. Vor der ungarischen Grenze stossen sie auf eine unendliche Wagenkolonne von Geflüchteten. Man müsse 20 bis 30 Stunden rechnen bis zum eigentlichen Grenzübergang, erfährt die Familie von einem Bekannten, der sie erwartet. Die junge ukrainische Familie entscheidet sich, die zehn Kilometer zu Fuss zu gehen – mit Kinderwagen und Gepäck.

Alle Strassenschilder sind abmontiert
Aus der Heimat wird auch Odermatt informiert, dass man an allen Grenzübergängen nach Polen und Ungarn mit einer Wartezeit von mindestens zwei Tagen rechnen müsse und so beschliesst er, nach Truschky zurückzufahren. Er will es danach – besser ausgerüstet – über Moldawien/Rumänien erneut versuchen.

Während man bei der Hinfahrt zur Grenze einfach der Autokolonne habe folgen können, sei es auf der Rückfahrt schwierig gewesen, sich bloss mit einer Europakarte und einem Kompass, den der Orientierungsläufer selbstverständlich bei sich hatte, zu orientieren. Kriegsbedingt seien restlos alle Strassenschilder abmontiert gewesen, dafür sei er auf Gruppen von Zivilisten gestossen, die die Aufgabe gehabt hätten, herumirrenden Autofahrern zu helfen. Beim Zwischenhalt zu Hause richtete ihm Ludmilas Sohn ein Navi ein, das in der Ukraine funktionieren sollte und reparierte die Hintertür, die sich nicht mehr abschliessen liess.

Haferflocken und Honig, ein Navi und ein Geigenkasten
Ausgerüstet mit Proviant – 5 Kilo Haferflocken, 3 Liter Honig, 10 Liter Wasser und ein paar Äpfel – fuhr Ernst Odermatt ein zweites Mal weg. Mit dabei war auch seine Geige, deren Kasten er stets geöffnet liess, weil er regelmässig die Neugier der Kontrolleure an den Strassensperren weckte. Diesmal gings südwärts, Richtung Odesssa. Von dort wollte er westwärts Richtung Moldawien fahren. Doch das erwies sich als unmöglich, weil an der Grenze zu Moldawien russische Fallschirmjäger gelandet waren. Er musste abermals umkehren. Zunächst bei leichtem Schneefall über die gespenstisch leere Autobahn Odessa-Kiew, wo er manchmal ganz allein unterwegs war, dann westwärts Richtung Polen.

Die Fahrt habe sich unendlich in die Länge gezogen, weil jede Ortschaft am Anfang und am Ende Stassensperren errichtet habe. «Insgesamt 150 bis 200 Mal wurde ich kontrolliert, von Zivilisten in kleineren, von Polzisten in grösseren Ortschaften. Vielleicht an jeder dreissigsten oder vierzigsten Tankstelle konnte ich meine Benzinkanister nachfüllen.» Der Stau an der Grenze, diesmal der polnischen, dauerte nur noch Stunden, nicht mehr Tage wie zuvor. Zu den Erinnerungen an diese Staus gehört für Odermatt die verstörende Erfahrung, «dass sich die reichen Bonzen mit ihren schweren und teuren Autos – Krieg hin oder her – das Recht nahmen, mit Blinken, Blaulicht oder Hupen die stehende Wagenkolonne auf der Gegenspur zu überholen». Solche Szenen seien in der Ukraine in normalen Zeiten leider normal – im Krieg sei solche Arroganz äussert befremdlich, meint Odermatt.

«Ich habe meinem Körper gesagt, was auf ihn wartet»
Vom polnischen Galizien bis in die Zentralschweiz ist es weit, aber es herrscht nicht mehr Krieg. Ernst Odermatt fährt über Tschechien und Österreich. Vor Bregenz habe er sich ein letztes Mal verfahren. Ohne Autobahnvignette und mit einem alten Fahrausweis kommt er in der alten Heimat an: «Neunundsiebzig Stunden war ich am Stück im Auto unterwegs, zwei Stunden schlafen, fünf, sechs Stunden fahren. Neunundsiebzig Stunden und keine einzige kritische Situation: Das Glück des ...»  ­– Odermatt sucht nach dem treffenden Wort und meint dann verschmitzt: «Das Glück des bewusst Vorsichtigen.» Und fügt an: «Erstaunlicherweise hatte ich keine einzige Sekunde Rückenweh. Ich habe mit meinem Körper kommuniziert, habe ihm gesagt, was auf ihn wartet. Das funktioniert.»

In der Schweiz telefoniert Ernst Odermatt täglich mit seiner Frau Ludmila. Das hilft ihm in diesem schwierigen Spannungsfeld zu leben: er hier, in der sicheren Schweiz  – «Luda», deren erwachsene Kinder, die Freunde und Nachbarn dort, in Truschky und Bila Zerkwa, von wo nachts die Hilfsgüter, die sie und viele andere auftreiben, zu den Soldaten an die Front gebracht werden.

«Hei, gend ai goh Wach schiebe!»
Ihnen in der Ukraine und ihm in der Schweiz ist die  quälende Ungewissheit gemein, was in der kommenden Nacht, was  in den nächsten Tagen noch passieren wird, neben all dem Leid und der Zerstörung, die Putins Krieg bereits über die Ukraine gebracht hat.

Ernst Odermatt ist stolz auf seine Frau, die so aktiv weibelt, um zu helfen, wo sie kann. Sie sei ein Beispiel für die ukrainische Haltung in dieser verzweifelten Lage: «Wir geben nicht auf!» Das stecke auch andere an. Ihre Nachbarn links und rechts, der eine sei ein gebürtiger Russe aus Kiew, der aus Sicherheitsgründen auf seiner Datscha in Truschky wohnt, wurde von Ludmila unerschrocken aufgefordert: «Hei, gend ai ad Sperri firä go Wach schiebe!», erzählt Odermatt. Inzwischen sei dies für die beiden Männer selbstverständlich geworden. Die Brücke sei mit Betonblöcken gesperrt und im Turnus ständen nun auch ihre Nachbarn Wache, einer mit der Jagdflinte, der andere mit leeren Händen.

Socken und Sàlo für die Soldaten
Ludmila habe ihm gesagt, dass die Soldaten oft nur Brot und die in der Ukraine beliebten Gewürzgurken zum Essen hätten, erzählt Odermatt. Sie und ihre Freunde versuchten nun bei den Bauern, in den Vorratskellern auf dem Land Eingemachtes wie Gurken oder Peperoni aufzutreiben, vor allem aber Sàlo, den berühmten ukrainischen weissen Rückenspeck, der gesalzen und gewürzt ist. So solle das «Menü» der Kämpfenden verbessert werden. Über ihre Tochter habe sie eine direkte Verbindung zur Front. Dort brauche es für die kalten Nächte von bis zu minus 10 Grad auch Kleider, vor allem Socken und Pullover. Als er Ihr gesagt habe: «Von mir kannst du alles weggeben», habe Luda gelacht und gesagt: «Ist schon geschehen.»

«Wir werden gewinnen»
Der Krieg dauert nun schon mehr als einen Monat. Seine Frau sei jedoch immer noch «hundertprozentig davon überzeugt, dass sie gewinnen würden», sagt Odermatt. Daraus schöpften die Menschen Kraft zum Handeln – trotz der allgegenwärtigen Angst. In der Gegend von Bila Zerkwa habe sich das Leben wieder ein wenig normalisiert, da sie abgesehen von den Bomben an den ersten Kriegstagen bis jetzt von weiteren Beschiessungen verschont geblieben sei. Die meisten Leute arbeiteten wieder, die wichtigste Aufgabe aber – so die Aussage von Ludmila – sei die Unterstützung der Soldaten an der Front.

In einem Land, das siebzehn Mal grösser sei als die Schweiz, gebe es noch viele Gegenden, die glücklicherweise bis jetzt vom direkten Kriegsgeschehen mehr oder weniger verschont geblieben seien, sagt Odermatt. «Die Lage in diesen Gebieten im weiten Land steht für mich in einem eigenartigen Kontrast zu den Bildern im Fernsehen und vielen Berichten in den hiesigen Medien. Diese fokussieren meist auf das eigentliche Kriegsgeschehen, auf die Städte, die von den Russen eingekreist sind und zerbombt werden, auf das Leiden der Menschen in zerstörten Häusern, Schulen und Spitälern.

Flüchtling im eigenen Land
Auch nach zwei Wochen in der Schweiz ist Ernst Odermatt hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Er habe sich eingelebt, das Nötige erledigt, um hier zu wohnen. Er sei seiner Familie und den Menschen in seiner Umgebung unendlich dankbar dafür, wie sie ihn aufgenommen hätten. Doch es sei ein eigenartiges Gefühl, plötzlich ein Geflüchteter zu sein, ein Flüchtling im eigenen Land. «Wenn das mir so ergeht, wie schwer muss diese Zerrissenheit für die Ukrainerinnen, Ukrainer und ihre Kinder sein. Sie sind zu Flüchtlingen in einem fremden Land geworden.»

Ludmila, die Frau von Ernst Odermatt, bereitet Lebensmittel vor für die Soldaten an der Front. Bilder: Ludmila Odermatt

25. März 2022 – max.schmid@luzern60plus.ch