Kiew: Blick über die über tausend Jahre alten Kirchen der Höhlenklöster und den Dnepr hin zu den neuen Wohnquartieren.

Meine Liebe zur Ukraine

Seit Wochen sind die Medien voll mit Berichten über zerbombte Städte und von geflüchteten Menschen. Vor dem Krieg kannten nur wenige die Ukraine. Deshalb mein persönlicher Einblick in dieses faszinierende Land, das ich nach vielen Reisen und langjähriger Projektarbeit liebgewonnen habe. Unfassbar, was dieser sinnlose, ja irrationale Krieg nach einer Zeit des Aufbruchs zerstört und wie viel Leid er über Millionen von Menschen bringt.Von Monika Fischer (Text und Bilder)

Begonnen hat alles vor 25 Jahren. Nach Kontakten mit dem Schweizer Künstler Hugo Schär und seiner ukrainischen Frau Iryna Tkachenko fuhren wir erstmals nach Kiew. Wir waren fasziniert von dieser grünen Stadt am Dnepr mit ihren vielen goldenen Kuppeln und ihrer wechselvollen Geschichte. Mehrmals kehrten wir seither zurück.

Über Irynas Eltern erfuhren wir viel über die Geschichte, das Leben und die Traditionen des Landes. Nina wollte bei unseren stundenlangen Spaziergängen keinesfalls für einen Kaffee einkehren, das sei viel zu teuer. Alexander, einer der Liquidatoren von Tschernobyl, sparte nicht mit seinen Enttäuschungen über den ehemaligen Sowjetstaat, der die Menschen unter anderem nach dem Reaktorunfall angelogen hatte. Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der seit der Unabhängigkeit 1991 noch jungen Nation blickte er der Zukunft dennoch zuversichtlich entgegen.

Ein vergessenes Land…
Dank Alexanders Kontakten lernten wir das Land auf vielen Reisen kennen. Auf der Krim hatte er uns einen Platz in einem Sanatorium in Alushta reserviert. Der Direktor wollte nur das Beste für uns, waren wir doch seine ersten Gäste aus dem Westen. In Odessa dachten wir auf der Potemkin’schen Treppe mit Schaudern an die Bilder aus dem legendären Filmklassiker «Panzerkreuzer Potemkin» von Sergej Eisenstein. Neben dem Russischunterricht genossen wir den Strand, die Parks und die Streifzüge durch die Stadt mit ihren kunstvollen Bauten und Statuen. In dem von Hugo Schär konzipierten Museum im nahen Weingut Shabo erfuhren wir, dass dieses vor 200 Jahren von ausgewanderten Waadtländern aufgebaut worden war.

In Cernowitz erinnerten wir uns an die Dichter:innen, die in dieser Stadt gelebt hatten. Einmal mehr bewegte uns das Schicksal der in der Westukraine fast ausgerotteten jüdischen Bevölkerung. Beim Besuch einer wertvollen Holzkirche fragte uns eine Teilnehmerin einer Gruppe von Professor:innen, was uns an der armen Ukraine interessiere. Sie war erstaunt, als wir von unserer Begeisterung für dieses an kulturellen Gütern und reizvollen Landschaften reichen Landes erzählten. «Warum nur hat sich vor dem Krieg kaum jemand für dieses Land und seine Menschen interessiert?», fragten wir uns immer wieder, hatten wir doch in der Stadt Tschernihiw, die uns wie ein verkleinertes Kiew vorkam, erfahren: «Die einzigen Touristen bei uns sind Männer aus dem Westen, die hier eine Frau suchen.»

Maidan in Kiew: Wunsch nach Freiheit.

… mit einer leidvollen Geschichte
Wohl begegnete uns bei unseren Reisen auch viel Armut. Unvergessen bleiben beim ersten Besuch in Kiew die langen Schlangen vor allem von Frauen, die beim Ausgang aus der Metro Waren zum Verkauf anboten: Strümpfe, Pullover, Lebensmittel. Oder die beiden zahnlosen Mütterchen, die mit zitternden Stimmchen sangen und einen Hut für eine Spende hinhielten. Unvergessen sind neben den Statuen des Nationaldichters Taras Schewtschenko die Denkmäler in allen Städten und Dörfer, die an unermessliches Leid erinnern: an die Gefallenen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, an die Millionen, die unter der grausamen Herrschaft von Stalin beim Holodomor verhungert waren. Bei den letzten Reisen kamen die Gesichter und Namen all jener jungen Männer dazu, die ihr Leben seit 2014 beim Maidan-Aufstand oder beim Krieg im Donbass verloren hatten. Neben all dem Leid beeindruckte uns die unglaubliche Gastfreundschaft und die Lebensfreude der Menschen, die jeweils nach dem dritten Toast mit Wodka in einer Vergeschwisterlichung mündete.

Schweizerisch-ukrainische Projekte
Nach jeder Reise in die Ukraine fühlte ich mich reich beschenkt. Ich wollte nicht nur profitieren, sondern etwas zurückgeben. Die Gelegenheit ergab sich nach der ersten Schnupperreise 2005 nach Transkarpatien, organisiert durch den Verein NeSTU (Netzwerk Schweiz-Transkarpatien/Ukraine). Schon auf der langen Heimfahrt im Zug entschied ich mich zum Mitmachen im Vorstand. Neben der Organisation von Reisen und Konzerten des Kammerchors Cantus engagierte ich mich vor allem in dem 2007 gegründeten Verein Parasolka, den ich zehn Jahre leitete.

In dem Internat genannten Kinderheim in Vilshany, einem abgelegenen Tal, berührten uns die Säle voller Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen. Sie lagen Bett an Bett oder sassen in den Zimmern ohne Beschäftigung und Förderung. Im Erwachsenenalter wurden sie ohne jegliche Perspektiven in psychiatrische Anstalten verlegt, wo bis 300 Menschen dahinvegetierten. Mit der einheimischen NGO CAMZ wollten wir ein Wohnheim für 25 junge Erwachsene mit teilweiser Selbstversorgung, Förderung und Beschäftigung aufbauen. Die Anfänge waren enorm schwierig. Fachleute warnten uns: «Ihr werdet das nicht schaffen. Wer wird schon Geld geben für dieses korrupte Land.» Dank grossen finanziellen Beiträgen von Privaten, die das Land kannten, nahmen wir die Hürden gemeinsam mit den engagierten Partnern vor Ort.

Konzert der Bewohnerinnen und Bewohner zum zehnjährigen Bestehen des Wohnheims Parasolka.

Mut und Hoffnung
Bei der Einweihung des Wohnheims Parasolka 2009 in der Kleinstadt Tjachiv flatterte die gelb-blaue Fahne der Ukraine neben der rot-weissen Schweizerfahne. Das Wohnheim hat sich seither zu einem Modellprojekt fürs ganze Land entwickelt. Dazu trug auch die alle zwei Jahre stattfindende ukrainisch-schweizerische Fachkonferenz stand. Ich erinnere mich besonders an den engagierten Teilnehmer aus Luhansk oder an die Frauen, die später aus der Nähe der Kriegsfront einzig hergefahren waren, um zu sehen, dass ein menschenwürdiges Leben für ihre behinderten Kinder wirklich möglich ist.

Wir haben miterlebt, wie der Aufstand am Maidan den Ukrainerinnen und Ukrainern Mut und Hoffnung gab, wie sie unter der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass litten, wie die Grivna zunehmend an Wert verlor. Unbeirrt davon setzte sich eine engagierte Zivilgesellschaft für Veränderungen ein. Jahr für Jahr gab es trotz Rückschlägen Fortschritte auch für das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Fachpersonen wie die Sonderpädagogin Henny Graf (rechts) aus der Schweiz geben den einheimischen Mitarbeiterinnen Wissen und Erfahrungen weiter.

Nothilfe statt Weiterentwicklung
Da wegen der Pandemie eine Reise lange nicht möglich war, ergriff ich im letzten November die erstbeste Gelegenheit zu einem Besuch. «Welcome home», begrüsste mich die Direktorin Nataliya der Partnerorganisation CAMZ bei der Ankunft in der Stadt Uschgorod. In den beiden Institutionen stellte ich mit Freude deutliche Verbesserungen fest. Auch das neue Projekt an der Uni Uschgorod, die Ausbildung in Sonderpädagogik, war gut angelaufen.

Und dann kam am 24. Februar die Nachricht vom brutalen Angriffskrieg. Es war ein Schock, unfassbar, irrational. Seither sind meine Gedanken bei den Freunden in Kiew und in Transkarpatien. Bei regelmässigen Kontakten erfahre ich, dass sie sich nicht lähmen lassen, sondern unermüdlich im Einsatz sind. Die Mitglieder unseres Netzwerks leisten seit dem ersten Tag pausenlos Hilfe vor Ort, ist doch Transkarpatien die einzige Region, in der es bisher relativ ruhig ist. Deshalb flüchten viele Menschen aus den Kriegsgebieten in den Westen. Die Bevölkerung des Oblasts (Kantons) ist seit Kriegsbeginn um ein Drittel angewachsen. Unsere Freunde leisten Nothilfe, sorgen für Unterkunft und alles zum Leben Nötige. Sie nehmen mit Freiwilligen an der Grenze Hilfsgüter in Empfang und organisieren die Verteilung bis in die Kriegsgebiete. Das Kinderheim Vilshany hat zusätzlich zu den 180 Bewohnerinnen 34 zum Teil schwerbehinderte Menschen aus den Kriegsgebieten aufgenommen. Trotzdem laufe der Betrieb den Umständen entsprechend normal.

Im Kinderheim Vilshany wurde Platz für geflüchtete Kinder mit einer Behinderung geschaffen. Bild: zvg

«Gemeinsam werden wir es schaffen»
Alexander (84) und Nina (82) fühlen sich in ihrer rund eine Autostunde von Kiew entfernten Datscha relativ sicher. Im Keller gibt es noch Vorräte vom vergangenen Jahr und genügend Kerzen. Bis jetzt konnten sie auch weitere Lebensmittel kaufen. Sie machen sich wohl Sorgen vor allem um die beiden Enkel und hoffen, dass diese nicht eingezogen werden. Doch möchten sie das Land nicht verlassen. Schon viele Schwierigkeiten haben sie überstanden und sind zu sehr mit dem Heimatboden verbunden.

Die Freunde aus der Zentralukraine und aus Transkarpatien berichten von einer grossen Hilfsbereitschaft vor Ort und sind dankbar für die spürbare Anteilnahme und Unterstützung aus der Schweiz, ja aus der ganzen Welt. Sie hoffen mit uns, dass dieser brutale Krieg möglichst bald ein Ende findet. Seit einem Monat pausenlos im Einsatz meinte die Übersetzerin Lesja Levko: «Wir sind stark und bleiben dran. Gemeinsam werden wir es schaffen!»

Die Frauen der NGO CAMZ (Comité d’Aide Médicale Zakarpattia) haben eine wichtige Schlüsselfunktion in der Verteilung von Hilfsgütern in der Region und darüber hinaus. Rechts Lesja Levko, bekannt auch als Moderatorin bei den Cantus-Konzerten. Bild: zvg

29. März 2022  – monika.fischer@luzern60plus.ch