Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger

«Etwas Süsses wird uns guttun»

Von Yvonne Volken

Ich bin auf dem Heimweg von einem Wiedersehen nach fast zwei Jahren. Endlich haben wir uns alle wieder treffen können. Wir sind eine freundschaftlich verbundene Gruppe von vielseitig interessierten Menschen fast gleichen Alters, leben sozusagen «in der gleichen Blase», sind uns meist einig und manchmal wissen wirs auch besser als alle andern. Dieses Mal aber liefs mehr als harzig und die zwei Erdbeertörtchen, die ich achtlos verschlungen habe vorhin, liegen mir schwer im Magen.

Die Gastgeberin hatte die Törtchen am Ende unserer heftigen Diskussion aus der Küche geholt. «Etwas Süsses wird uns guttun», meinte sie. Ja, die Früchte auf den Törtchen kämen aus Spanien, seien aber bio. Da schimpfte J. gleich wieder los. Sie würde nie Produkte essen – wie Eier und Rahm –, die von «gefolterten» Tieren stammten, beschied sie uns barsch. Und Mehl aus Weizen von ausgelaugten, weil übernutzten und mit Pestizid verseuchten Böden, komme für sie auch nicht in Frage. «Ihr wisst ja, was das für Konsequenzen hat!» «Wissen wir!», sagten wir lahm. «Wisst ihr auch wie viele Moose, Flechten, Brutvogelarten auf der Roten Liste des Bundes stehen, weil wir uns im Alltag um ökologische Zusammenhänge foutieren?» Wir nickten kauend und schuldbewusst, suchten einen neuen Termin – so um Weihnachten herum.

Dabei hatten wir uns alle sehr gefreut aufs Wiedersehen, zumindest hatten wir uns gegenseitig viele Daumenhoch-Emojis zugesandt, als klar wurde, dass es nach Ostern endlich klappen würde. «Zurück zur Normalität» – unmöglich angesichts der Weltlage, das war uns allen klar. Und schon waren wir beim Thema: Der Krieg in der Ukraine, der uns seit Wochen beschäftigte. Wer schuld war, das wussten wir. Dass «der Westen» mitschuldig war, das war ebenfalls unbestritten. «Gut, dass die Deutschen endlich schwere Waffen liefern.» «Die SPD- Kuschelpolitik der letzten Jahrzehnte gegenüber Russland, ein Skandal!» «Immerhin haben die Grünen ihr Abrüstungs-Mänteli jetzt schnell ausgezogen, ja, ja und dein Habeck auch das Energiewende-Mänteli, hä, hä.» «Mein Habeck! Was soll das jetzt?»

«Assez maintant», versuchte die Gastgeberin zu beruhigen. Tatsächlich haben wir früher nie so heftig diskutiert – ausser vielleicht über die Genderfrage. Und nun zofften wir wegen der deutschen Politik, auf die wir nun wirklich keinen Einfluss hatten. – Nun ja, «assez» wars noch lange nicht, an jenem blauen Nachmittag, wo wir uns zunächst noch froh mit einem Glas Weisswein zugeprostet hatten. «Wir stehen doch ständig am Gartenhag mit unserer Neutralität.» «Du bist doch nicht etwa plötzlich für die Flugzeugbeschaffung?» «Nein, aber diese Amherd und überhaupt die Walliser Scharfmacher der sogenannten Mitte-Partei – politische Selbstversorger, sonst nichts!» «Willst du etwa behaupten, bei deiner GLP seis besser?»

Ja, es war wirklich genug. «Wir sind doch bloss Zuschauer, wir hier am Tisch!», warf ich ein. Das brachte leider das Fass zum Überlaufen. «Was heisst hier Zuschauer? Wir haben ja alle weggeschaut!» «Briefkastenfirmen in Luzern und Zug und Milliardenvermögen von Oligarchen verschoben – das nennst du Zuschauer? Den Kopf in den Sand gesteckt, profitiert und uns gemütlich eingerichtet, das haben wir doch alle!» «Ja und Corona, das war wirklich Jammern auf hohem Niveau bei uns. Oder hast du wenigstens einen Leser*innen-Brief gegen die Hasstiraden und das Verschwörungsgeschwurbel der sogenannten Massnahmengegnerschaft geschrieben?»

«Immerhin haben die Jungen jetzt wieder ein Stück Normalität zurück, nachdem Corona vorbei ist», versuchte es R. mit einem Themawechsel. Sie hätten ja am meisten gelitten und zwei Jahre ihres Lebens verloren. Aber auch hier erhitzten wir uns sofort wieder: Wir alle hätten zwei Jahre unseres Lebens verloren – und rein rechnerisch hätten wir älteren Menschen mehr Zukunft verloren als die jungen, ereiferten sich einige. «Jeden Tag warm duschen, Party machen und nach Ibiza in die Ferien fahren, ist nun mal kein Menschenrecht!» «Und ein Haus in der Provence zu haben, auch nicht!» «Du musst zugeben, dass du jetzt unfair und zynisch argumentierst.» «Und du tönst fast schon wie Roger Köppel mit seinem Gefasel von Dekadenz.» «Assez maintenant, hallo, jetzt aber definitiv», entschied die Gastgeberin, erhob sich und holte die Erdbeertörtchen aus der Küche.

Was gibt es Lähmenderes als dieses Zuschauen, dieses Zaungast-Sein grüble ich dann auf dem Heimweg. Wem nützen unser Entsetzen und unser Mitgefühl, wenn kein Handlungsspielraum vorhanden ist? Gleich am nächsten Tag rufe ich meine achtsame Freundin G. an, die schon lange mit dem Rücken zur Welt lebt. «Du hast nicht zufällig noch Kleider und Spielsachen, die du entbehren kannst?», fragt sie. Sie hat in ihrer Ferienwohnung ukrainische Flüchtlinge einquartiert. Grossmutter, Mutter und ein Enkelkind.

11. Mai 2022 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.