Lesen in der Badewanne. Foto: Pexels-taryn-elliott

Rituale – unsere kleinen Inseln im Alltag

Der Mensch tut am liebsten, was er kennt. Dazu gehören Rituale. Sie bereichern und strukturieren unser Leben, schaffen Gemeinschaft und Sicherheit. Und einige machen richtig Spass.Von Eva Holz

«Silbrig. Goldig. Obenabe huschele und iikuschele!». So hiess das Gutenacht-Ritual, das wir drei Kinder allabendlich mit unserem Vater geniessen durften. Dabei sass er auf der Bettkante, zog das weisse Leintuch – in unserer Idee silbrig – weit über unseren Kopf, darüber die hellbraune – goldige – Schurwolldecke, sodass wir uns einen kleinen, aufregenden Moment versteckt fühlten. Dann klappte er Leintuch und Wolldecke schwungvoll auf Schulterhöhe zurück und knuddelte uns sanft. Meist folgten darauf zwei traditionelle Einschlaflieder. Kein Abend, da nicht eines der Kinder aus dem Zimmer rief: «Und jetzt noch silbrig-goldig!»

Dieses Ritual zum Abschied des Tages vermittelte uns Struktur und Geborgenheit. Und es war immer auch etwas Lustiges dran.

Wie in vielen Familien, haben wir unseren eigenen Kindern am Abend vorgelesen, zunächst aus Bilderbüchern, dann reine Textmärchen und lange Zeit schaute mein Mann mit den Buben ausgiebig Tim-und-Struppi-Comics an. Danach war Feierabend und meist schliefen sie gut ein. Nicht immer war das wiederkehrende elterliche Abendritual möglich, denn ab und zu hüteten die Grosseltern oder ein Babysitter. Selbstverständlich hatten auch diese ihre Gutenacht-Müsterli. Ob Geschichte, Kuschelritual, Lieder oder ein Gebet: Was dabei vor allem zählt, ist die gemeinsame Zeit, die Qualität der Beziehung und der behütete Übergang in die Nacht.

Rituale gibt es seit Menschengedenken
Wo immer man sich umhört oder einliest wird schnell klar, dass da einerseits die Rede ist von den klassischen «grossen», in der Regel religiösen Ritualen und daneben von individuellen «kleinen» Alltagsritualen. Beides wird in den meisten Kulturen gelebt und breit akzeptiert. Archäologische Funde zeigen, dass es schon vor über 100'000 Jahren Opfer- und Bestattungsrituale gab. Mit rituellen Handlungen versuchten unsere Ahnen nicht zuletzt Dinge fassbar zu machen, die sich nicht erklären liessen und lassen.

Noch bis vor einem halben Jahrhundert richtete sich unser gesellschaftliches, familiäres und berufliches Leben nach mehr oder weniger strengen Bräuchen, moralischen Sitten und Ritualen. Die Macht der Natur, der Wechsel der Jahreszeiten und allem voran die Kirche gaben den Takt vor und sorgten für wiederkehrende, strukturierte Abläufe.

Wichtig für Körper und Seele
«Auf Rituale kann man sich verlassen, weil man sie gut kennt. Dadurch muss man nicht jedes Mal neu darüber diskutieren und entscheiden», erläuterte die Gesundheits- und Sozialpsychologin Urte Scholz von der Universität Zürich gegenüber dem Beobachter. (Lesen Sie das Interview mit der Expertin im 2. Teil.)

Erwiesen ist, dass der Mensch psychisch und körperlich von Ritualen profitiert. Kein Wunder, pflegt auch die heutige Gesellschaft diese weiter. Ein Jahr ohne das Feiern von Weihnachten, Ostern, Geburtstagen oder Muttertag: für die meisten unvorstellbar. Hinzu kommen naturgegebene Vorkommnisse, die mit Ritualen verarbeitet werden, wie die Taufe nach einer Geburt oder das Begräbnis nach dem Hinschied eines geschätzten Menschen.

Ganz zu schweigen von den unzähligen kleinen, individuellen Ritualen, die man auch als liebgewonnene, unabdingbare Gewohnheiten bezeichnen kann: der erste Espresso nach dem Aufstehen, Sommerferien immer am selben Ort, das Feierabendbier, am Sonntag der «Tatort» oder die Yogaübungen vor dem Zubettgehen.

Und nicht zu vergessen sei, dass nach wie vor Menschen regelmässig Gottesdienste besuchen. Kurz: Rituale sind überall und begleiten uns auf unterschiedliche Weise durchs Leben. In ihnen spiegelt sich der Wunsch nach Gewohnheit und Vertrautheit ebenso wie das Verlangen, unsere alltäglichen und spirituellen Bedürfnisse zu leben.

Grosse Sehnsucht nach christlichen Ritualen
Die Theologin und Buchautorin Claudia Pfrang wurde von der Süddeutschen Zeitung befragt, ob auch nicht-religiöse Rituale einen tieferen Sinn haben können. Dazu erläuterte sie: «Wenn man sie bewusst vollzieht, können auch säkulare Rituale sehr, sehr hilfreich und schön sein. In meiner Familie zum Beispiel wird bei runden Geburtstagen häufig eine Kerze gebastelt. Diese wird dann zu Beginn feierlich angezündet, dazu singen wir ein Geburtstagslied. Und dieser Moment ist für uns wahrscheinlich genauso wichtig wie ein christliches Ritual. Das Entscheidende ist: Rituale halten den Alltag für einen Moment an und führen uns so in die Mitte. Und in die Tiefe.»

Aber die Theologin sagte auch: «In den Kirchen sind die Grundrituale wunderbar aufgehoben, wie in Gefässen. Und es gibt eine grosse Sehnsucht danach. Denken Sie an den Segen, den sich auch viele homosexuelle Paare so wünschen. Einfach weil das etwas ausdrückt, dass wir uns selbst nicht geben können. Ich denke, es ist extrem wichtig und kostbar, in freudigen wie schmerzhaften Momenten auf solche christliche Rituale zurückgreifen zu können. Wir brauchen nur neue Worte, um sie wieder verständlich und lebbar zu machen.»

Es gibt auch gefährliche Rituale
Rituale können mitunter manipulativ wirken. Claudia Kolf-van Melis beschrieb es im Hamburger Abendblatt eindringlich: «Zur Zeit des Nationalsozialismus waren Fackelzüge oder Massenaufmärsche ein Mittel der Propaganda. Sie sind bewusst eingesetzt worden, um das Bedürfnis nach Identität und Gemeinschaft für politische Zwecke zu nutzen. Ein waches Nachdenken über die Praxis von Ritualen ist also wichtig. Es gilt zu unterscheiden zwischen Ritualen, die dem Menschen freiheitliche Entwicklung ermöglichen, und solchen, die diese Entwicklung eher hemmen oder einschränken.»

Obwohl man in Fachkreisen versucht, die Begriffe Gewohnheit, Routine, Brauch, Sitte und Ritual möglichst präzis zu definieren und voneinander zu unterscheiden, wird klar, dass sich viele der vertrauten, sich wiederholenden Handlungen nicht so genau zuordnen lassen, sondern ineinanderfliessen.

Dieser Beitrag ist im Magazin «active&live» erschienen.

Teil 2: «Rituale bringen Sicherheit und können Stress reduzieren»