In der bis auf den letzten Platz gefüllten ZHB diskutierte der Gerontologe Beat Bühlmann mit der Zeit-Journalistin Samiha Shafy über mögliche Gründe für ein langes, erfülltes Leben.

Die Weisheit der Hundertjährigen

Bei Gesprächen mit Hundertjährigen in verschiedenen Gegenden der Welt hat die Autorin Samiha Shafy einige Faktoren für ein gutes langes Leben erfahren. Dazu beitragen können neben viel Glück auch Offenheit, Lebenssinn, Beziehungen – und täglich eine Handvoll Nüsse.

Von Monika Fischer (Text und Bild)

Die in Basel geborene und heute in Leipzig lebende Autorin Samiha Shafy hat gezielt 100-jährige Menschen besucht und zu ihrem Leben befragt. Die rund 50 Porträts sind im 2019 erschienenen Buch «Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben. Die Weisheit der Hundertjährigen» zusammengefasst. Ausgangspunkt war eine Recherche in New York, die Shafy als Wissenschaftsjournalistin über drei 100-jährige Geschwister gemacht hatte. Sie war überrascht, wie unterschiedlich diese gelebt hatten und ihr hohes Alter begründeten. Beeindruckt von der Präsenz und dem Potenzial der Hundertjährigen entstand die Idee, gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Brinkbäumer auf ihren Reisen um die Welt die hochaltrigen Menschen nach einem Fragenraster meist gemeinsam zu befragen. «Es wurde zu meinem Herzensprojekt, zumal die alten Menschen gerne erzählten», sagt Samiha Shafy. Für das Schreiben des Buches teilte das Ehepaar die gesammelten Biografien auf, was durchaus harmonisch geschehen sei.

Bewegte Lebensgeschichten
Was hat sie bei den Gesprächen speziell beeindruckt? Auf die Frage von Beat Bühlmann berichtet die Autorin von den verschiedenen Lebensgeschichten mit unterschiedlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Angesichts eines Überlebenden von Ausschwitz, dessen ganze Familie umgekommen war, hatte sie grossen Respekt davor, mit ihren Fragen in sein Leben einzudringen. Der hochbetagte Mann erleichterte das Gespräch mit seiner Menschenfreundlichkeit. «Die berührende Begegnung hat mein Leben bereichert», sagt sie und erzählt von Roger. Ihn hatte das Paar sieben Jahre im Alter von 95 bis 102 immer wieder besucht, wobei sich eine Freundschaft entwickelte. Beim Vorlesen des entsprechenden Kapitels wurde spürbar, wie lebendig die Autorin Leben und Persönlichkeit des alten Mannes eingefangen hat. Dieser wollte zeitlebens nichts anderes machen, als für den New Yorker schreiben. Das Alter bezeichnete er sowohl als Glück als auch als Plage, da er viele Freunde verloren hat. Gerne wollte er weiterleben wie früher, was nicht möglich war. Und doch war er zufrieden und froh, dank seiner dritten Ehefrau nicht allein zu sein.

Offenheit und Lebenssinn
Im angeregten Gespräch ging Samyha Shafy auf mögliche Gründe für das hohe Alter ein. Sie hatte niemanden getroffen, der sich einsam fühlte, auch wenn die Betroffenen keine Familie hatten. Die meisten der porträtierten Hundertjährigen waren trotz erfahrener Verluste immer wieder neugierig und offen für jüngere Freunde. Erstaunt hat sie auch die Gelassenheit der Hundertjährigen. Im Gespräch bereuten die Männer zwar, dass sie sich zu wenig Zeit für die Familie genommen hatten, und die Frauen hätten gerne einen Beruf gelernt. Und doch bedauerten sie wenig, blickten gelassen und mit Humor auf ihr Leben zurück und sehnten sich auch nicht nach dem Sterben. Es sei eine wichtige Voraussetzung für ein zufriedenes und erfülltes Leben im Alter, das zu machen, was man wolle, meint die Autorin. Weiter erwähnt sie neben Glück, viel Bewegung und gesunder Ernährung den japanischen Begriff ikigai (Lebenssinn). Es gehe um eine Aufgabe, für die es sich zu leben lohnt, wofür man täglich wieder aufsteht. Als Beispiel dafür las die das Porträt von Carla Voirol, die für ihren Pudel leben und nicht wegen jedem «Wehwehchen» eine Tablette nehmen wollte. Mit dem Rollator machte sie täglich ihre Spaziergänge mit ihrem Hund, indem sie langsam Fuss vor Fuss setzte. Angetrieben wurde sie von einer enormen Willenskraft und Disziplin, aber auch von Wut, vermutete die Autorin, musste sich die Frau doch als Migrantin durchkämpfen. Obwohl sie kein einfaches Leben hatte, war sie im hohen Alter zufrieden und versöhnt.

Im Heute leben
Bei ihrer Recherche hat sich Samiha Shafy auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Altersforschung befasst. Sie erzählt von den verschiedenen blauen Zonen, Berggegenden, wo die Menschen einfach leben oder Regionen mit mildem Klima, in denen es auffallend viele hochaltrige Menschen gibt. Ein Drittel von ihnen gehöre der Freikirche der Adventisten an, die den Körper achtsam pflegen und gesünder leben, indem sie wenig oder kein Fleisch und Zucker zu sich nehmen. Bestätigt fand sie auch die Regel, dass eine Handvoll Nüsse täglich das Leben um drei Jahre verlängert, ohne die Begründung zu kennen.

Das Gespräch zeigte auf: Mit der starken Zunahme der Hundertjährigen werden wir mehr und mehr zur Gesellschaft des langen Lebens. Es ist ein Wandel, dem sich die Gesellschaft und die Betroffenen stellen müssen. Was sie aus den Gesprächen mit den Hundertjährigen für sich gelernt habe, will Beat Bühlmann abschliessend von Samiha Shafy wissen. «Im Heute leben, nicht zu viele Kompromisse eingehen, sondern das tun, was man möchte und immer wieder loslassen», meint diese lachend.

Dem Leben Farbe geben
Das Gespräch mit Lesung vom 16. September fand in Zusammenarbeit mit der ZHB und dem Lyzeum Club Luzern statt. Es war der fünfte Anlass der Veranstaltungsreihe «Lebensreise 2022. Dem Leben Farbe geben.» Organisiert wurde die Reihe von der Fachstelle Altersfragen der Stadt Luzern vom Frauentrio Simone App, Irène Graf und Myriam Müller. Auf dem Programm steht weiter eine Filmreihe im Stattkino Luzern. Den Auftakt bildet am 5. Oktober 2022, 16 Uhr, der Film «Oh – Anton Egloff» von Beat Bieri mit anschliessendem Gespräch.

Klaus Brinkbäumer und Samiha Shafy: Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben. Die Weisheit der Hundertjährigen. Eine Weltreise. Verlag S. Fischer, 2019. 

22. September 2022 – monika.fischer@luzern60plus.ch