Demenz lässt Erinnerungen verschwimmen oder ganz verschwinden.

Einblicke in den Alltag einer Demenzkranken

Wie lebt sich der Alltag in einer Partnerschaft und wie entgeht man der Isolation, wenn eine Paarhälfte demenzkrank ist? Unser Autor war bei einem Paar zum Nachtessen eingeladen, dessen tägliches Leben stark durch die Krankheit der Frau strukturiert ist.

Von Hans Beat Achermann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

«Hallihallo» tönt es vom obersten Stockwerk des Vierfamilienhauses das Treppenhaus hinunter. Die Stimme stammt von der 76-jährigen dementen Doris G., die in Wirklichkeit anders heisst. Eigentlich wollte ich mit ihrem langjährigen Partner, nennen wir ihn Martin G., ein Interview machen, ein Gespräch führen, wie er mit der fortschreitenden Demenz seiner Partnerin umgeht, wie sich die Partnerschaft verändert und wo er an Grenzen kommt. Der 75-jährige Martin G. lud mich und meine Partnerin spontan zu einem Nachtessen ein. «So könnt ihr ganz nah miterleben, wie der Alltag bei uns stattfindet.» Und so trafen wir uns um 18 Uhr in der grosszügigen Luzerner Wohnung zu einem feinen Wildessen. Ich kannte Doris schon seit vielen Jahren, habe später auch ihren Partner kennengelernt.

Besuch gegen die Isolation
Da sitzen wir nun in der gemütlichen Stube am Salontisch, sprechen über dies und das, über italienische Politik und den Ukraine-Krieg. Über Demenz sprechen wir noch nicht. Martin erzählt, dass sie nun drei- bis viermal in der Woche Besuch hätten, «so komme ich zu meinen sozialen Kontakten, denn auswärts essen oder auf Besuch gehen ist nicht mehr machbar.» Auch der Aufenthalt in einem Tagesheim sei nicht möglich: «Doris würde plötzlich aufstehen und sofort nach Hause gehen wollen.» Zum Apéro sitzt sie bei uns im Sofa, schweigt viel und lange, nippt am Prosecco, um plötzlich «Happening» oder «Happybett» zu sagen. Es seien die beiden Wörter, die sie Dutzende Male am Tag wiederhole, sagt Martin, manchmal auch erwähnt sie das «Vogellisi».

Nimmt sie wahr, dass wir über sie und ihre Krankheit sprechen? Eine von vielen weiteren Fragen, die sich an diesem Abend stellen. Wir spüren, dass es ihr Freude bereitet, Besuch zu haben, auch wenn wir nicht wissen, ob sie noch weiss, wer wir sind. Aber ist das wichtig? Sind das nicht überflüssige Fragen, genauso wie diejenige nach der Bedeutung der Worte, die Doris immer wiederholt? Martin hat viel gelesen über die Krankheit, er hat sich mit Neuropsychologie und Hirnforschung beschäftigt. Als ehemaliger Ingenieur und Hochschullehrer ist er ein rationaler, reflektierter Mensch. Hilft ihm das, mit der Krankheit seiner Partnerin umzugehen, mit der er seit 19 Jahren zusammenlebt? «Das hilft sicher und gibt eine gewisse Distanz», sagt Martin. Mit Doris kann er seit zwei, drei Jahren kein rationales, zusammenhängendes Gespräch mehr führen. Doch ein gewisses Verstehen ist immer noch vorhanden. Vieles scheint über Gefühle und Gewohnheiten zu laufen. Wenn er sie jetzt fragt, ob sie beim Servieren helfe, geht sie in die Küche und bringt die Teller. Es sind auch Rituale, die weiterhin funktionieren.

Keine Anker in der Vergangenheit
Erste Anzeichen einer beginnenden Demenz erkannte Martin vor etwa fünf Jahren, da hat Doris das letzte Bild gemalt, das jetzt in der Stube hängt. Immer mehr Erinnerungen sind dann weggebrochen, Ängste sind dazugekommen, zum Beispiel beim Autofahren, auch als Beifahrerin. Sie male immer noch, behauptet sie. Vielleicht macht sie Bilder in ihrem Kopf, wer weiss das schon. Genau das ist ja das Schwierige im Umgang mit Demenzkranken, nicht zu wissen, was im Kopf vorgeht. Martin hat bewusst entschieden, Doris nicht neurologisch abklären zu lassen, es sei ihm egal, ob seine Partnerin an Alzheimer oder an einer anderen Form von Demenz leide. Er nimmt die Krankheit an, so wie er diese täglich wahrnimmt. Doris wirkt heute fröhlich, entspannt, und so sei sie immer, sagt Martin.

Als wir Doris einmal fragen, was denn mit dem Wort «Happening» gemeint sei, antwortet sie ganz rasch: «Muesch mich ned welle erläbe.» Wir sind erstaunt, weil die Antwort so klug und so präzis ist und uns zweifeln lässt, ob nicht doch noch eine verbale Kommunikation möglich ist. Doch Martin, der Tag und Nacht bei ihr ist, ist der Überzeugung, dass keine Äusserung mehr auf etwas anderes verweist, dass alles nur noch ganz aus der Situation heraus zu erklären ist, dass auch das «Happybett» und das «Vogellisi» keine Anker in der Vergangenheit haben. Aus der Begegnung mit einer andern Demenzkranken im familiären Umfeld wissen wir, dass diese Person sehr wohl Bilder und Erinnerungen aus der fernen Jugend und Kindheit im Kopf hatte, auch wenn diese zusammenhangslos aufschienen. Martin ist sich bewusst, dass die Krankheit verschiedene Verläufe nehmen kann. Er weiss auch, dass jeder und jede Demenzkranke einen Rest Individualität behält. Doch es ist nicht mehr die ausgeprägte Individualität eines Erwachsenen: «Doris ist jetzt etwa so wie ein zweijähriges Kind», sagt Martin.

Eine Art Mutter-Kind-Beziehung
Am Esstisch sitzt Doris neben mir. Auch sie hat das Hirschschnitzel mit dem Rotkraut, den Spätzli und der Birne aus dem eigenen Garten vor sich auf dem Teller. Essen mag sie kaum. Einige Bissen nimmt sie selbstständig, dann füttert Martin sie behutsam, denn mit der Krankheit hat sie auch stetig an Gewicht verloren. Plötzlich sagt sie irritiert: «Da sind noch Leute.» Wir sind es, die sich in der Glasscheibe der Balkontür spiegeln. Martin zieht den Vorhang, die Fremden sind weg, Doris ist sofort beruhigt.

Es ist halb neun, Doris nickt ein, ist müde, möchte zu Bett. Sie steigen gemeinsam die Treppe hoch, Martin begleitet sie auf die Toilette, zeigt ihr die Zahnbürste, bringt sie zu Bett. Nach wenigen Minuten sitzt er wieder am Tisch, er öffnet noch eine Flasche Wein und wir reden weiter, vielleicht ein bisschen unbefangener. Martin erzählt von seinem «freien» Tag am Vortag, acht Stunden wurde Doris von einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes betreut.  Er konnte sich mit einer Bekannten treffen, am See essen und spazieren gehen, Einkäufe machen. Einen Tag pro Monat übernimmt die Tochter den Betreuungsdienst, drei Mal ist es eine SRK-Mitarbeiterin.

Ist er nie überfordert? Er verneint. «Es ist meine Aufgabe, die ich gerne erfülle.» Er kocht leidenschaftlich gerne, am Abend habe er viel Zeit zum Lesen. Nachts läutet ein Glöcklein, wenn Doris aufsteht. Dann erwacht er und begleitet sie aufs WC, das sie nicht immer selbst findet. «Es ist keine Partnerschaft mehr, ich bin in einer Situation wie eine Mutter, die ihr Kind liebend beschützt und schaut, dass es ihm gut geht.» Die intensiven Gespräche, die sie früher geführt haben, die führt er nun mit Freunden und Bekannten, bekocht diese mit Leidenschaft. «Während Corona, als Besuche nicht mehr möglich waren, war es schwierig. E-Mails und Telefongespräche konnten das Kommunikationsdefizit nur teilweise kompensieren.» Martin hat die Rolle als Pflegender und Betreuender klaglos angenommen, sie gibt ihm sogar eine gewisse Befriedigung. Aber er ist sich auch bewusst, dass die Situation ändern kann, dass die Gebrechlichkeit zunehmen wird, dass irgendeinmal andere Lösungen nötig sind.

Was Doris jetzt wohl träumt? Oder träumen Demente nicht mehr? Wir wissen es nicht und sie weiss es vermutlich selbst auch nicht in ihrer ganz anderen Welt, die wir gar nicht erleben wollen und können.

23. Oktober 2022 – hansbeat.achermann@luzern60plus.ch