Darf ich auch wählen und abstimmen, wenn ich unter Demenz leide?

Auch Menschen mit Demenz können sich eine politische Meinung bilden

Im Kanton Genf können Menschen mit psychischer und geistiger Behinderung ihre politischen Rechte wahrnehmen. Gilt das auch für Menschen mit Demenz? Und wie siehts im Kanton Luzern aus?

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Am 29. November 2020 haben die Stimmberechtigten des Kantons Genf mit grosser Mehrheit entschieden, dass Menschen mit einer schweren geistigen oder psychischen Behinderung die politischen Rechte nicht länger entzogen werden dürfen. Damit kommt Genf als erster Kanton der Uno-Behindertenkonvention nach, die von der Schweiz 2014 ratifiziert wurde. Konkret bedeutet dies, dass 1200 Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, auf kommunaler wie kantonaler Ebene wählen und abstimmen können. Wäre dies im Kanton Luzern, wo am 14. Mai die zweite Runde der Regierungsratswahlen stattfindet, auch möglich? Und sind Menschen mit Demenz damit eigentlich auch gemeint?

Pauschaler Ausschluss nicht akzeptabel
Selbstverständlich müsse dieses Recht auf politische Partizipation ebenso Menschen mit Demenz zugestanden werden, sagt Caroline Hess-Klein, Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbands Inclusion Handicap. Die Art der geistigen oder psychischen Behinderung sei irrelevant. Auch Einschränkungen, die auf das höhere Alter zurückzuführen seien, rechtfertigten keine Entmündigung bei den politischen Rechten. Hess-Klein stört sich vor allem daran, dass den rund 14'000 Personen mit umfassender Beistandschaft pauschal die politischen Rechte verwehrt werden. «Eine Person mit psychischer Krankheit kann vielleicht ihre Rechnungen nicht selber bezahlen», sagte sie gegenüber der NZZ, «aber das heisst nicht automatisch, dass sie nicht in der Lage wäre, sich eine politische Meinung zu bilden.»

Doch bestünde bei Personen, deren Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist, nicht die Gefahr des Missbrauchs? Hess-Klein bestreitet dies. «Das Missbrauchsrisiko bei schwerbehinderten Menschen ist nicht grösser als etwa bei Pensionären in Altersheimen oder bei sehbehinderten Menschen, die ihren Stimmzettel nicht selber ausfüllen können.» Auch der Basler Rechtsprofessor Markus Schefer, der 2018 in den Uno-Ausschuss für Behindertenrechte berufen wurde, sieht da kein Problem. «Dass jemand nicht wählen soll, weil er oder sie die Vorlage nicht versteht, ist fadenscheinig», erklärte er vor der Volksabstimmung im Kanton Genf. Es gebe immer wieder Abstimmungen, wo viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nicht über jedes Detail Bescheid wüssten.

Abstimmungsvorlagen in «leichter Sprache»
Inclusion Handicap ist sich aber bewusst, dass Menschen mit einer psychischen oder geistigen Behinderung besondere Unterstützung bräuchten, um in der Politik mitentscheiden zu können. «Wir müssen uns überlegen, in welcher Weise wir diese Frauen und Männer unterstützen können, ohne sie zu beeinflussen», sagt Hess-Klein. Zum Beispiel durch leichte Sprache, Gebärdensprache oder Erklärvideos. In Genf werden auch Abstimmungscafés organisiert, das sogenannte «Bla-Bla-Vote», um Vorlagen im kleinen Kreis zu diskutieren. Es brauche neue Formen der Beteiligung, betont auch Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz (ALZ CH). Damit Demenz nicht weiterhin zur Ausgrenzung im sozialen, kulturellen und im politischen Leben führe, müssten neue «Ermöglichungsstrukturen» für die Teilhabe geschaffen werden.


Volksinitiative will Rechte von Menschen mit Behinderungen stärken

Am 27. April 2023 startet die Unterschriftensammlung für die Inklusions-Initiative. Menschen mit Behinderungen sollen selbstbestimmt und mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen am Leben der Gesellschaft teilnehmen können, verlangt der neue Verfassungsartikel. Dafür soll zum Beispiel der Zugang zu personellen und technischen Assistenzleistungen ausgeweitet werden. Zudem sollen Menschen mit Behinderung künftig das Recht haben, «ihre Wohnformen und ihren Wohnort frei wählen zu können». In der Schweiz leben rund 470'000 Personen mit einer schweren Behinderung. Hinter der Initiative stehen AGILE, Amnesty International, Inclusion Handicap, die Stiftung für direkte Demokratie sowie der Verein Tatkraft: www.inklusions-initiative.ch


Aus Sicht von ALZ CH könnte der wegweisende Entscheid von Genf der Diskriminierung von Menschen mit Demenz hinsichtlich politischer Rechte ein Ende setzen. «Eine demenzkranke Person, die Hilfe bei der Verwaltung ihres Vermögens oder bei gewissen persönlichen Angelegenheiten benötigt, kann durchaus in der Lage sein, sich eine politische Meinung zu bilden», heisst es in einer Stellungnahme von ALZ CH. Allerdings habe die politische Partizipation für Menschen mit Demenz ihre Grenzen, räumt Becker ein: «Mit Fortschreiten der Erkrankung stehen einerseits zunehmend andere persönliche Probleme im Vordergrund, die die politische Partizipation in den Hintergrund rücken. Auch ist dann in späteren Stadien der Demenz eine politische Urteilsfähigkeit nicht mehr gegeben.» Nötig sei deshalb ein differenziertes Konzept für die Handhabung dieser Mitwirkungsrechte.

Im Kanton Luzern erkranken jährlich 1400 Personen an Demenz
Im Kanton Luzern leben gegen 6000 Personen mit einer Demenz, bis ins Jahr 2035 dürfte sich diese Zahl fast verdoppeln. Denn jährlich erkranken schätzungsweise 1400 Personen neu an einer Form von Demenz. Wie vielen Personen die politischen Rechte durch Vorsorgeaufträge oder eine umfassende Beistandschaft entzogen sind, ist nicht genau bekannt. Ende 2019 bestand für insgesamt 300 Erwachsene eine umfassende Beistandschaft, wie der Luzerner Regierungsrat vor zwei Jahren auf eine Anfrage von Monique Frey (Grüne) erklärte. Es sei davon auszugehen, dass diese in der Regel keine politischen Rechte ausüben könnten. Zudem wurden mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht (seit 2013) rund 170 Vorsorgeaufträge validiert und somit diesen Frauen und Männern die Urteilsfähigkeit aberkannt.

Im Alltag der Luzerner Betagtenzentren stellt sich die Frage der politischen Teilnahme für Menschen mit Demenz sehr selten, wie Doris Fankhauser Vogel, Betriebsleiterin von Viva Luzern Wesemlin und Tribschen, auf Anfrage erklärt. Der Demenzwohnbereich umfasst zwölf Plätze, doch seien die Menschen, die dort betreut werden, in der Regel nicht mehr urteilsfähig und somit nicht wahl- und stimmfähig. Diese Praxis stimmt auch für den Luzerner Regierungsrat. Er will sich bei der Stimmfähigkeit weiterhin am einheitlichen Bundesrecht und nicht am «Genfer Modell» orientieren. «Aus kantonaler Sicht drängen sich solche Änderungen zurzeit nicht auf», erklärte er zur parlamentarischen Anfrage. Doch die Rechtsprechung könnte sich auf Bundesebene ändern. Das Bundesparlament hat vor zwei Jahren ein Postulat von SP-Ständerätin Marina Carobbio überwiesen. Mit diesem Vorstoss wird der Bundesrat beauftragt, einen Bericht vorzulegen, der aufzeigt, wie Menschen mit einer geistigen Behinderung «uneingeschränkt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können». Im Bundesrat dürfte das Anliegen zumindest eine starke Befürworterin haben: Elisabeth Baume-Schneider hat im Mai 2021, damals noch Ständerätin, mit einer Interpellation den Bundesrat aufgefordert, das «Genfer Modell» näher zu prüfen.

18. April 2023 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch