
Urban Frye, 63, im Gespräch über sein Engagement für die Musik und die Ukraine.
Visionär mit Mut und Risikobereitschaft
Ende August wurde im Beisein von Regierungsrat Armin Hartmann und Musiker*innen aus Charkiw die Music Box II an der Reuss feierlich eingeweiht. Zusammen mit der bereits 2019 eröffneten Music Box I stehen damit nun 45 schalldichte Wohn- und Proberäume für Musikstudierende zur Verfügung. Hinter dem Projekt dieser beiden Häuser, in denen auch das ukrainische Kultur- und Begegnungszentrum Prostir untergebracht ist, steht der Musikwissenschafter, Kulturmanager und Politiker Urban Frye.Von Monika Fischer (Interview und Bilder)
Wie kamst du dazu, dieses ungewöhnliche Projekt der Music-Boxen anzugehen?
Urban Frye: Mit 50 kündigte ich alle meine Verpflichtungen und wollte nur noch machen, was für mich richtig stimmt. Im Zusammenhang mit dem Ausbau der Musikhochschule Südpol fragte ich den Direktor, wo die Studierenden wohnen werden. Man kann doch nicht ausbauen, ohne die Konsequenzen zu überdenken. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass hochtalentierte junge Menschen die besten Konditionen haben für ihre Ausbildung und entsprechend gefördert werden, damit sie ihre Begabungen entfalten können. Da infolge einer Bauzonenänderung ein vor 20 Jahren gekauftes Grundstück an der Reuss plötzlich viel mehr wert war, bekam ich Kredite von den Banken für Projekte, die ich sonst nicht hätte realisieren können. Mit einer Gruppe von Studierenden als Bauherren entstand so die Music Box mit schalldichten Räumen zum Üben. Im Frühling 2019 konnte das nach den Massstäben der Nachhaltigkeit erbaute Holzhaus mit 27 Studios, einer Bibliothek und einem Konzertsaal für Werkstattkonzerte eröffnet werden.
Wie waren deine Erfahrungen in den letzten sechs Jahren?
Die Music Box hat sich sehr bewährt. Die jungen Menschen zwischen 19 und 24 Jahren, die an der Hochschule Musik oder einer vergleichbaren Einrichtung studieren, sind dankbar für ein Umfeld, wo sie sechs bis acht Stunden pro Tag üben können. Sie wohnen im Schnitt drei Jahre hier. Gemäss Reglement müssen sie das Haus drei Monate nach Abschluss des Studiums verlassen. Sie tragen Sorge zum Wohnraum, und das Zusammenleben zwischen den Menschen verschiedener Kulturen funktioniert nach dem Primat der Vernunft und der Rücksichtnahme einwandfrei, zumal ich als Ansprechpartner im Haus wohne und stets zur Verfügung stehe.
War schon von Anfang der Bau eines zweiten Hauses geplant?
Ja, denn das Bedürfnis war und ist immer noch enorm. Wir haben das zweite Haus an das Konzept des ersten angepasst, jedoch statt Studios drei Sechszimmerwohnungen mit je zwei Nasszellen, Küche und Aufenthaltsraum eingerichtet. Da die Holzmodule vorfabriziert und vor Ort zusammengebaut wurden, dauerte die Bauzeit weniger als ein Jahr. Angesichts der Wohnraumknappheit war es von Anfang an mein Ziel, so günstig wie möglich und gleichzeitig ohne Verlust an Wohnqualität zu bauen und somit Flächen und Ausbaustandard einzugrenzen. Wir wohnen im obersten Stock mit gleichem Standard wie die Studenten und finden es cool.
Wie hast du das Projekt finanziert?
Die beiden Häuser sind mit Eigenmitteln, Hypotheken und Privatdarlehen komplett privat finanziert. Es war gut zu erfahren, dass begüterte Menschen Geld für sinnvolle Projekte geben, ohne eine maximale Rendite zu bekommen. Auch die zwei involvierten Banken gingen das Risiko ein, da kaum mehr jemand an die auf diesem Grundstück geplante Spange Nord glaubt. Diese schönen Erfahrungen haben mich motiviert, mit diesem Bausystem in wirtschaftlich gut erschlossenen Gebieten in der Ukraine Wohnraum zu schaffen für Binnenflüchtlinge, die alles verloren haben und im Land oder im Ausland leben. Mit einer Gruppe der Exilverwaltung von Mariupol sowie Schweizer Politikern und Wirtschaftsleuten erarbeiten wir ein entsprechendes Projekt. Zwei Ingenieure von Holzbaufirmen arbeiten aktuell an einem Modell mit Musterbauten gemäss der Music Box.
Dein grosses Engagement für die Ukraine ist bekannt. Viele Menschen besuchen jeweils die eindrücklichen, von dir organisierten musikalischen Gedenktage. Warum dieser Einsatz?
Ich kannte die Ukraine vor dem brutalen Angriffskrieg durch Russland lediglich von Kurzbesuchen in Kiew und Odessa. Als ich nach dem 24. Februar 2022 eine Anfrage bekam, Kunststudentinnen seien auf dem Weg in die Schweiz und brauchten Wohnraum, habe ich sofort nach einer Möglichkeit zur Unterbringung gesucht und diese im ehemaligen Schwesternhaus in Reussbühl gefunden. Ich konnte doch diese jungen Menschen nicht einfach sich selber überlassen. Daraus entstand die Idee, die Studentinnen könnten geflüchtete Kinder in Musik, Tanz, Malen unterrichten. So ist «Prostir» entstanden, ein Ort, wo sich geflüchtete Ukrainerinnen und ihre Kinder unkompliziert austauschen und Kraft tanken können. Bedarfsgerecht hat sich das vielseitige Angebot ständig weiterentwickelt. Neben Deutsch unterrichten ukrainische Fachpersonen Kinder und Erwachsene in Yoga, ukrainischen Tänzen, Kunsttherapie usw. und bieten psychologische Beratungen an. Geleitet wird «Prostir», das nach wie vor auf Spenden angewiesen ist, von der Präsidentin des gleichnamigen Vereins, Elena Kulik-Jovanovskyi. Nach Provisorien hat «Prostir» nun in den Räumen der Music Box ein festes Zuhause gefunden. Ein Stundenplan regelt die Nutzung der Räume.
Wie kamst du dazu, selber mit Hilfsgütern in die Ukraine zu fahren und ein eigenes Hilfswerk aufzubauen?
Es war mir von Anfang an klar, dass es nicht reicht, ein Zimmer zur Verfügung zu stellen. Schon bei meinem ersten Besuch in Charkiw haben mir die Eltern die Verantwortung für ihre teilweise noch unmündigen Kinder übertragen. Als vor Ort die unsägliche Zerstörung sah, wusste ich: Wir müssen auch die Menschen unterstützen, die nicht geflüchtet sind und vom ersten Tag an in Metrostationen musizieren. Doch reicht es nicht, Waren und Wasser zu bringen. Kulturelle Identität ist lebensnotwendig. So haben wir Orchester aus Charkiw und Mariupol für Konzerttourneen in die Schweiz geholt. So hat sich eines aus dem andern ergeben. Aus der punktuellen Unterstützung ist ein eigentliches Hilfswerk entstanden. Da wir nicht in Konkurrenz mit anderen privaten Initiativen kommen wollten, sondern die Zusammenarbeit suchten, haben wir den Verein Ukrainehilfe Zentralschweiz gegründet. Präsident ist Paul Winiker, alt Regierungsrat.
Du fährst regelmässig mit Hilfslieferungen in die Ukraine. Ist das nicht gefährlich?
Ich fahre meist mit einem Fahrzeug, einer Ambulanz, einem Tanklöschfahrzeug usw., das vor Ort gebraucht wird, bin in der Regel neun bis zehn Tage unterwegs und fühle mich in der Ukraine gut aufgehoben. Ich hatte noch nie Angstgefühle oder Panikattacken, auch wenn Charkiw ständig unter Beschuss war und habe auch bei Alarm weitergeschlafen. Die Stadt ist gross. Die Menschen sind sehr hilfsbereit, und ich erlebe eine grosse Solidarität. Meine Freunde setzen mich keinen unnötigen Gefahren aus. Doch erlebe ich immer wieder, wie wichtig es ist, hinzugehen, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören, was passiert ist und sich dies auch zeigen zu lassen. Nur so ist Verständnis möglich, was enorm wichtig ist für die Menschen vor Ort. So entstehen auch immer wieder neue Ideen und Möglichkeiten. Allerdings merke ich, wie dünnhäutig ich geworden bin und es manchmal wenig braucht, bis ich meine Fassung verliere.
Wie erholst du dich von all den Eindrücken und Strapazen?
Es ist meine beste Therapie, wenn ich in der Ukraine wenn möglich allein unterwegs bin und stundenlang auf dem Weg in den Osten durch Sonnenblumenfelder nach Charkiw fahre. Es ist für mich wie eine Meditation und erfüllt mich mit Ruhe.

Diesen Monat ziehen die Musikstudierenden in die neue Music Box II an der St. Karlistrasse ein. Unten rechts die Music Box I.
Weitere Infos: www.ukrainehilfe-zentralschweiz.ch oder www.urbanfrye.ch
12. September 2025 – monika.fischer@luzern60plus.ch