Beziehungen im Alter (3): Den Ehepartner pflegen - bis an die Grenzen?

„Da müssen wir jetzt halt durch“

Seit zwölf Jahren umsorgt und pflegt Rita Nestler ihren Mann Paul, der an Parkinson und Makula leidet und jetzt im Pflegeheim wohnt. Als regelmässiger Begleiter von Paul Nestler seit rund fünf Jahren sprach ich mit Rita über Wahrnehmungen, Gefühle und Erlebnisse in dieser Beziehung.

Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Es war vor Tagen. Rita Nestler besuchte ihren Mann im Pflegeheim Steinhof. Wir sassen in der Cafeteria. Sie kam und begrüsste ihren Paul. Er sagte, er studiere an ihrem Namen. Er kannte sie im Moment offensichtlich nicht mehr. Worauf sie entgegnete: „Ich bin Rita“. Worauf er sagte, ja, so heisst auch meine Frau. – „Jetzt hat er mich zum ersten Mal nicht mehr erkannt“, sagt Rita.

Im Jahre 2006 hat sie erfahren, dass Paul an Parkinson leidet. „Er legte sich viel hin, war müde, hatte keine Initiative mehr, ganz im Gegensatz zu früher, als er noch sehr aktiv gewesen ist und vieles unternehmen mochte“, sagt Rita. Schon ein Jahr vorher erfuhr Paul Nestler, dass er an der Makula-Augenerkrankung leide. Bei einer späteren Kontrolle fragte ihn der Augenarzt, ob er auch schon mal von Parkinson gehört habe. Er solle bald zum Hausarzt gehen. Dort bestätigte sich dann die Diagnose: Parkinson.

Auf das Auto verzichtete er kommentarlos
In der Folge wurde sein Zustand konstant etwas schwieriger, beim Gehen, beim Treppensteigen, bei fast allen normalen Bewegungen. Auch die Reaktionsfähigkeit liess nach. Paul Nestler verzichtete kurz nach der Diagnose auf das Autofahren. Es zog ihn auf der Strasse immer nach links. Rita Nestler: „Das war eindrücklich. Er gab das Autofahren kommentarlos auf.“

Wie hat sich Paul Nestler verhalten, als er um die Erkrankung wusste? „Er hat nichts dazu gesagt“ erzählt seine Frau. „Ich habe oft gestaunt, aber er ging nie aus sich heraus mit seinem Leid. Er blieb konstant ruhig.“ Das sei schon früher nicht viel anders gewesen, sagt Rita. Es habe viel gebraucht, bis man von ihm erfahren habe, was ihn innerlich beschäftige.

„Ich kann überall leben“
In der Hirslanden-Klinik hat Paul Nestler vor rund drei Jahren erfahren, dass er nicht mehr nach Hause könne?  Er sagte zu seiner Frau, du kennst mich, ich kann überall leben. „Ich hatte damals grosse Mühe mit dem Entscheid, Paul ins Pflegeheim zu bringen, obwohl es vorher zu Hause kaum mehr ging. Ich war nächtelang mehr oder weniger auf Trab.“ Paul ging immer wieder aus dem Bett auf die Toilette. Manchmal stürzte er dabei. Er realisierte nicht mehr richtig, was da ablief.

Als der Transport mit dem Rollstuhl noch einfacher ging, nahm Rita mit Hilfe von Tochter oder Sohn ihren Mann aus dem Heim zum Essen nach Hause. Es gab nie Probleme, dass er ungern zurück ging, im Gegenteil. Nach einer gewissen Zeit zu Hause, wollte er wieder zurück in den Steinhof, „heimgehen“ sagt er.

Seit Oktober 2015 weilt Paul Nestler jetzt im Pflegeheim Steinhof. Ich denke, dass er sich dort aufgehoben fühlt. Es gelingt den Pflegenden, abseits ihrer beruflichen Aufgabe eine Art Gemeinschaft zu schaffen, ein Wort da, eine helfende Geste dort. Unsicher bin ich jeweils bei Anlässen, wo die Traditionen der Aussenwelt ins Heim überschwappen: an der Fasnacht vor allem, oder am 1. August, an der Chilbi. Vermutlich sträubten sich meine Nackenhaare, wenn ich da Paul, den ehemaligen Bankverwalter, mit einem Clownhütchen auf dem Kopf dasitzen sehe. Aber er nimmt’s gelassen. Und ist sehr zufrieden, wenn ich den Kopfschmuck entferne.

„Das Gespräch fehlt – das macht Mühe“
Themenwechsel: Was macht Rita Nestler heute Mühe, als besuchende und umsorgende Frau, deren Leben täglich vom Mann im Heim geprägt ist? „Das Schlimmste ist, dass ich mit Paul kein Gespräch mehr führen kann. Oder wenn er sagt, er studiere an meinem Namen, wenn ich komme. Das muss man schon verdauen.“

Paul Nestler gleitet jetzt langsam in eine Demenz. Er weiss oft nicht mehr, wer da bei ihm sitzt. Oder er lässt es nicht erkennen. Was wissen wir? Doch plötzlich – es war vor Monaten allerdings – überrascht er einem gewaltig. Beim wöchentlichen Besuch sagte ich einmal, Rita sei heute auf dem Einkauf. „Ja, ja, das kenne ich, das können die Frauen am besten“, entgegnete er.

Thema Makula: Kürzlich weilte Paul mit Rita beim Augenarzt zur Kontrolle. Doch der Sehtest ist nicht mehr möglich. Der Augenarzt fragt ins Leere. Paul sieht die Zahlen und Buchstaben nicht mehr, oder er weiss nicht, was er damit anfangen soll. Er sagt einfach nichts dazu.

„Ja, manchmal ist es schwer, dies alles mitzuerleben“, sagt Rita Nestler. Und schränkt dann gleich ein. „Ich habe die Kinder, die mich unterstützen.“ Sie  erfährt in ihrem verwandtschaftlichen Umfeld und auch in einem erweiterten Freundeskreis viel Unterstützung in der anspruchsvollen Rolle als Frau eines mehrfach erkrankten Mannes und Pflegeheimbewohners. Von den drei Kindern leben zwei in Luzern und kümmern sich regelmässig um ihren Vater. Sie unternehmen Ausflüge mit dem Rollstuhl mit ihm. Rita besorgt heute auch alles Finanzielle, das vorher natürlich der Banker gemacht hat.

„Ich kann gut mit dem Personal reden“
Wie fühlt sich Rita Nestler als Besucherin im Pflegeheim Steinhof, wo Paul jetzt seit drei Jahren lebt? „Das geht sehr gut. Ich fühle mich aufgehoben, fast wie zu Hause. Und ich schätze es, wie das Pflegepersonal meinem Mann begegnet. Die Bewohner und Bewohnerinnen von der Abteilung, wo Paul sein Zimmer hat, bilden eine gute Gruppe. Es schimpft niemand, sie sind im Grossen und Ganzen zufrieden. Und wenn irgendwelche Probleme da sind, kann man gut mit dem Personal reden.“ Was Rita Nestler beschäftigt, ist die Gefahr von Stürzen bei Paul. Das ist im Heim mehrere Mal vorgekommen, aber auch nicht einfach zu verhindern. Wenn Paul nicht im Rollstuhl sitzt, versucht er gerne aufzustehen, was aber nur sehr selten gelingt. Doch wenn er steht, macht er schnell ein paar Schritte und fällt dann leicht, weil er das Gleichgewicht verliert.

Noch einmal in den Galliker
Paul konnte auch Jahre vor dem Wechsel in den Steinhof nie mehr allein auf die Strasse. Das weiss ich aus der Begleitung, die ich 2013 begann. Wir machten zwar immer noch Spaziergänge auf die Allmend oder an den Rotsee, aber meine Präsenz beim Überqueren der Strasse oder am Trottoir war absolut notwendig. Woran sich Rita gut erinnert: „Paul ging früher fast täglich schwimmen ins Hallenbad. Das war ein paar Monate nach den ersten Anzeichen der Parkinsonerkrankung nicht mehr möglich. Das hat ihm vermutlich sehr weh getan. Aber klagen hörte ich ihn nicht deswegen.“ Eine weitere Erinnerung: „Paul wollte noch einmal in den Galliker essen gehen. Dort war er früher öfters, mit Berufskollegen oder am Jassen. Aber als wir dann konkret planen wollten, – es wäre nur mit Rollstuhl möglich gewesen – winkte er ab.“

Paul Nestler besitzt das Eidgenössische Bankbeamtendiplom. Während zwanzig Jahren leitete er die Darlehens- und Immobilienbank in Luzern mit 8 bis 10 Angestellten. „Er hat gelebt für das Geschäft, doch die Familie war ihm ebenso wichtig“, sagt Rita Nestler.

Das schlechte Gewissen
Und sie lebt heute für ihren kranken Mann. „In den ersten Jahren der Krankheit ging es eigentlich noch gut. Ich erinnere mich jedoch an die Busfahrten; mit der Zeit musste ich ihn stützen und beim Ein- und Aussteigen helfen. Es war körperlich anstrengend. Und in den letzten Jahren mit Paul zu Hause hatte ich wenig Schlaf.“ Heute ist Rita zufrieden, wenn sie ihren  Mann fast täglich im Steinhof besuchen kann. „Am Anfang hatte ich ein schlechtes Gewissen, als er ins Pflegeheim musste. Das habe ich lange nicht verarbeitet.“

Ferien hat Rita Nestler seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gemacht. Was sie sich gönnt, ist ab und zu eine Schifffahrt und ein Mittagessen mit Freundinnen. Und wenn sie noch mag, greift Rita Nestler zu einem Buch, Biografien zum Beispiel. „Das schätze ich sehr.“ Dabei hat sie grosse Unterstützung von ihrer Tochter, die sich auf dem Büchermarkt auskennt. „Sie hat schon als Kind s’Bäbi liegen gelassen, wenn sie etwas zum Lesen hatte. Wenn sie in einer fremden Stadt ankommt, darf ein Besuch in der Buchhandlung nicht fehlen.“

Als wir uns nach dem Gespräch verabschieden, sagt Rita Nestler: „Ja, da müssen wir jetzt halt durch.“ – Es ist fast ein Standardsatz, den ich ab und zu von ihr höre, wenn wir uns über den Zustand von Paul aussprechen.
28.November 2018

rene.regenass@luzern60plus.ch

 

Zu den Personen

Paul Nestler (83) ist in Aadorf im Thurgau aufgewachsen und lebt seit 1960 in Luzern. Er war während 20 Jahren Verwalter der Darlehens- und Immobilienbank in Luzern, die zur Willisauer Bank gehörte. Früher wirkte er kurz bei der SKA und während 13 Jahren auf der Schweizerischen Hypothekarbank in Zürich.

Rita Nestler-Zihlmann (81) hat die Jugendzeit in Emmenbrücke verbracht, machte die Lehre im Modehaus Winiker in Emmenbrücke und arbeitete nachher in Baar. 1958 heiratete sie Paul Nestler.