Christina von Passavant: „Ein bisschen chaotisch soll es schon sein!“

 

Text Toni Zwyssig - Bild René Regenass

Das sei ihr wirklich noch nie passiert. Sie hat unsern Interviewtermin verpasst – verschlafen. Ausgerechnet heute, am ersten Tag ihres selbst bestimmten Rücktritts. Sie sei aufgewacht mit einem fürchterlichen Hexenschuss und habe sich gleich wieder ins Bett gelegt. Der junge Hund habe wahrscheinlich beim Gassigehen auf dem Utenberg zu heftig auf die eine und andere Seite gezogen. Als ausgebildete Sozialarbeiterin und Unternehmerin mit 40jähriger Erfahrung in Organisationsentwicklung und Umgang mit schwierigen Kunden sollte sie eigentlich gewohnt sein, dass heftig auf die eine und andere Seite gezogen wird.

Am Nachmittag haben wir uns dann doch noch getroffen. Christina von Passavant – sieben Jahre lang erste Präsidentin des Forums „Luzern60plus“ – zieht Bilanz. Luzern 60plus – das sind rund 70 Leute, Männer und Frauen, politisch und konfessionell unabhängig, ausgewogen zusammengesetzt, aber nicht neutral. Sie verstehen sich als Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner der Stadtbehörden und des Service Public. Sie setzen sich im Auftrag der Stadt ein für ein attraktives, lebensfreundliches Luzern, für ein gutes Zusammenleben der Generationen und für einen ausgebauten Service Public.

Neugier als Motor
Am 1. September hat Christina von Passavant ihr „Baby“ an ihre Nachfolgerin Angelika Ferroni weiter gegeben. „Baby“ passe nicht zu „Luzern60plus“, meint sie. Das töne nach Helfersyndrom und Fürsorge. Dazu gebe es bereits genügend Institutionen und Gruppen. Für sie stehe etwas Anderes im Zentrum: Beobachten und ermöglichen von Beteiligungsformen, die nicht über die Parteien laufen. Sich als älterer Mensch zivilgesellschaftlich zu engagieren mit Neugier als Motor.

In Luzern wohnt sie zusammen mit ihrem Mann seit 18 Jahren. Luzern hat sie beruflich bereits vorher kennengelernt. Sie hatte verschiedene Mandate beim damaligen Bürgerrat und bei Krankenkassen. Aufgewachsen ist sie in Basel, vor ihrem Wechsel nach Luzern wohnte das Paar in Aarau. Zu Hause sei sie eigentlich „überall“, besonders geliebt habe sie Aarau und Amsterdam. Mandate habe sie vor allem in Deutschland und Österreich, seltener in Italien, Polen und England gehabt. In den letzten Jahren hat sie sich in Luzern ein grosses Beziehungsnetz aufgebaut, nicht zuletzt mit Unterstützung ihres Mannes, der bis zu seiner Pensionierung Personalchef in der Stadtverwaltung war und heute Verwaltungsratspräsident von Viva ist.

Luzernerinnen sind bereit, sich zu engagieren
Was ist anders in Luzern? Unzählige Male sei sie hier angesprochen worden: „Gälled sie, Luzern isch schön!“ Nirgends zuvor sei ihr diese gewisse Selbstgefälligkeit so aufgefallen wie hier. Den ständigen Vergleich der Luzerner mit der Basler Fasnacht findet sie mühsam. Sie möge beides, ohne eine Philosophie daraus machen zu wollen. Luzern sei eine dörflich funktionierende Kleinstadt mit Bewohnern und Bewohnerinnen, die bereit sind, sich direkt, kleinnetzig und mit Herzblut zu engagieren. Die Kleinkulturszene sei hervorragend. Dazu müsse man Sorge tragen. Im Vergleich mit andern Städten stellt sie eine gewisse Obrigkeitshörigkeit und Unterwürfigkeit fest, was dazu führe, dass man Entscheide und Hilfe etwas gar oft von oben erwarte.

Von der Politik anerkannt, von der Verwaltung fast als Belästigung  empfunden
Als sie vor acht Jahren vom Stadtrat angefragt wurde, eine Nachfolge zum bisherigen Seniorenrat aufzubauen, habe sie gerne zugesagt. Der Seniorenrat war parteipolitisch zusammengesetzt, wurde von Stadt und Bevölkerung nicht sehr ernst genommen und schliesslich aufgelöst.  Christina von Passavant will die Senioren und Seniorinnen dort abholen, wo sie etwas an der Stadtpolitik interessiert. Zum Beispiel in Verkehr, Wohnen, Erwachsenenschutz, Finanzen. Mit ihrem erfahrenen Aussenblick, dem raschen Erkennen von Möglichkeiten und klaren Rollenvorstellungen, war sie im richtigen Moment am richtigen Ort die richtige Person. Die Akzeptanz von der Politik – dem Stadtrat und dem Grossstadtrat – habe sie rasch gespürt und bekommen. In der Verwaltung sei das – nicht zuletzt wegen unklaren Rollen und Rollenverständnis – manchmal etwas schwieriger gewesen. Dort hätten sich verschiedene Teams mit Altersfragen beschäftigt. Sie seien aber lange unkoordiniert nebeneinander gelaufen, manchmal sogar, ohne dass die einen von den andern gewusst  oder sich gar als Konkurrenten verstanden hätten. Sie und Luzern60plus seien anfänglich eher als Belästigung empfunden worden. Das habe sich aber mit dem Erfolg und der breiten Akzeptanz in der Öffentlichkeit verändert. Geholfen dazu habe vor allem der „Marktplatz“, der zum eigentlichen Markenzeichen von Luzern60plus geworden sei. Luzern60plus organisiert für die Stadt bereits zum sechsten Mal auch den „Zwischenhalt“, den Begrüssungsanlass für alle Stadtbewohnerinnen und Bewohner, die neu ins Pensionsalter eintreten.

„Selektive Dummheit“ kann helfen
Christina liebt klare Verhältnisse. Ihr listig-lustiger Blick ist ihre Geheimwaffe. Sie spricht Differenzen an, sagt was sie braucht, kann aber auch mit andern Meinungen umgehen, indem sie gleichzeitig das verdutzte Gegenüber mit ihrem schallenden Lachen zu beruhigen weiss. Manchmal helfe auch „selektive Dummheit“ – sich dumm stellen – etwas nicht verstehen wollen: „Erkläre es mir so, dass ich es verstehe; erkläre mir bitte, warum es das Forum Luzern60plus nicht braucht.“ Trotz der eher übertrieben konsensorientierten Luzerner Diskussionskultur habe sie meist bekommen was sie wollte. „Die Stadt ist selbstverständlich wichtig für Luzern60plus – aber wir gehören nicht der Stadtverwaltung. Luzern60plus ist vom Stadtrat eingesetzt und der Sozialdirektion nur administrativ angebunden.“

Worauf ist sie im Rückblick besonders stolz? Die Antworten kommen rasch und bestimmt. Am meisten freue sie der Mix von Männern und Frauen im Forum Luzern60plus, durchwegs Persönlichkeiten mit einem interessanten Lebenshintergrund, die den einbringen, aber auch einfach Spass haben, andere Leute zu treffen und miteinander etwas zu bewegen. Zum Beispiel in den Arbeitsgruppen Ausschuss, Redaktion, Wohnen, Pflegheime, Marktplatz sowie an den Werkstattgesprächen mit Politikern aller Parteien und Fachleuten aus Kultur, Gesellschaft, Verkehr und Wirtschaft. Diese Lebenszeichen seien der Lohn für die  Freiwilligenarbeit.

Mehr Inputs aus dem Forum erhofft
Eigentliche Flops habe es keine gegeben. Die attraktive Homepage (www.luzern60plus.ch), die schweizweit beachtet wird, dürfte von den Mitgliedern noch besser genutzt werden. Von den Mitgliedern hätte sie manchmal mehr Inputs erhofft. Die Stadt könnte bei Luzern60plus proaktiv mehr abholen, um sich zu Altersfragen ein realistisches Bild zu machen. Die Ressourcen, welche die Stadt zur Verfügung stelle, seien recht bescheiden. Das häufigste Echo auf Luzern60plus aus andern Städten im In- und Ausland ist ein bewunderndes „Bei uns wäre so etwas nicht möglich.“

Was würde sie heute anders machen? „Ich würde darauf bestehen, dass Luzern60plus beim Stadtpräsidium angehängt wird. Altersfragen betreffen alle Departemente und müssen direktionsübergreifend behandelt werden.“
Und jetzt? „Als Forumsmitglied bei Luzern60plus mitmachen und mit dem Hund spazieren gehen.“
8. September 2017

Die neue Präsidentin des Forums Luzern 60plus heisst Angelica Ferroni. Hier wird sie vorgestellt.