François Höpflinger fordert mehr Mitwirkungsrechte in den Heimen.

„Eine gerontologisch fragwürdige Altersdefinition"

Auf der familiären Ebene hat Corona die Generationenbeziehungen gestärkt. Doch gesellschaftspolitisch könnte die Pandemie das defizitäre Altersbild wieder zutage fördern, sagt Altersforscher François Höpflinger im Interview.

Mit François Höpflinger sprach Beat Bühlmann
François Höpflinger, einer der renommierten Altersforscher in der Schweiz, befasst sich seit Jahren mit demografischen und familiensoziologischen Themen. Er war Professor für Soziologie an der Universität Zürich (1994-2013) und hat bereits das Nationale Forschungsprogramm „Alter" (NFP 32, 1992-1998) geleitet. Seit 2014 gehört er zur Leitungsgruppe des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören „Generationen – Strukturen und Beziehungen. Generationenbericht Schweiz" (2008, zusammen mit Pasqualina Perrig-Chiello und Christian Suter) sowie der der Age Report, der 2019 zum vierten Mal erschienen ist, diesmal zum „Wohnen in den späten Lebensjahren" (zusammen mit Valerie Hugentobler und Dario Spini); beide erschienen im Seismo Verlag Zürich. François Höpflinger (72) ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und Grossvater von vier Enkelkindern. Beim Telefoninterview befand er sich in seiner Zweitwohnung im Prättigau.

Wie schlimm war der eingeschränkte Kontakt zu den Enkelkindern während der Coronakrise?
Höpflinger: Unsere Enkelkinder sind in einem Alter, wo man sie als Grosseltern nicht mehr so häufig betreuen muss. Aber natürlich hatten wir mit ihnen deutlich weniger Kontakt. Immerhin blieben wir über Skype stets in Verbindung.

Welche Folgen hatte diese Kontaktsperre für die Generationenbeziehung?
Höpflinger: Das zeitweise Besuchsverbot zwischen Enkelkindern und Grosseltern hat einerseits die Bedeutung dieser Beziehung sichtbar gemacht und andererseits die digitale Kommunikation zwischen den Generationen gestärkt. Selbst längere Kontaktverbote haben keine langfristig negativen Folgen, denn intensive Beziehungen zwischen Familienangehörigen sind, wie Erfahrungen von geografisch getrennten Migrationsfamilien zeigen, dennoch möglich.

Viele Grosseltern fühlten sich ausgeschlossen. War das Besuchsverbot in Ordnung?
Höpflinger: Die Empfehlung des Bundesamts für Gesundheit, dass Grosseltern auf persönliche Kontakte mit ihren Enkelkindern verzichten sollten, basierte auf einer familiendemografisch verzerrten Wahrnehmung: Alle Grosseltern wurden der Risikogruppen 65plus zugeordnet, obwohl faktisch die meisten Grosseltern bei der Geburt eines ersten Enkelkindes deutlich jünger sind als 65 Jahre. In der Schweiz liegt das Durchschnittsalter einer Frau bei der Geburt des ersten Enkelkindes bei 55 bis 58 Jahren, bei Männern zwei bis drei Jahre später.

Vielen Seniorinnen und Senioren haben sich daran gestört, dass sie alle der Risikogruppe 65plus zugeteilt wurden. Das war doch zu ihrem Schutz?
Höpflinger: Es war trotzdem problematisch. Mit dieser Definition der Risikobevölkerung haben Bundesrat und BAG eine gerontologisch fragwürdige und veraltete Altersdefinition betont. Gleichzeitig haben die öffentlichen Verlautbarungen rein defizitorientierte Vorstellungen zum Alter verstärkt. Denn Alter 65 ist eine demografisch-sozialpolitische Grenze, aus gerontologisch-geriatrischer Sicht ist sie absurd. Sie wurde wohl aus lauter Panik so erlassen.

Was wäre denn die Alternative gewesen?
Höpflinger: Meines Erachtens hätte man die Risikogruppe konkreter fassen müssen, zum Beispiel generell für Personen mit gewissen Erkrankungsformen. Oder man hätte die Frauen und Männer ab 70 Jahren oder allenfalls ab 75 Jahren, wie für die Autofahrer, zur Risikogruppe erklären können.

Wollen sich die „Babyboomer", also die jungen Alten, einfach nichts vorschreiben lassen?
Höpflinger: Die Babyboomer, die sich eigentlich gar nicht als Risikogruppe sehen, sind wohl damit beleidigt worden. Die späte Freiheit der Pensionierten war unversehens in Frage gestellt, und sie mussten erfahren, dass nicht immer alles möglich ist.

Mit der Empfehlung zu Hause zu bleiben, wurde viel zivilgesellschaftliches Potenzial der pensionierten Frauen und Männer aufs Eis gelegt.
Höpflinger: Mit dem Ausschluss der Generation 65plus wurden alle Projekte, die sich an einem engagierten und kompetenzorientierten Rentenalter orientieren, zeitweise sistiert. Das hat vor allem die aktiven und gesunden Rentnerinnen und Rentner massiv irritiert, weil sie so von der Freiwilligenarbeit oder von Generationenprojekten ausgeschlossen wurden.

Damit habe ich gut leben können. Viel stärker habe ich mich an der Aufrechnung der Lebensjahre von älteren Personen in Pflegeheimen gegenüber dem Wohlbefinden der Wirtschaft gestört. Was bedeutet diese unverhüllte Altersdiskriminierung aus gerontologischer Sicht?

Höpflinger: Das Altersbashing hat uns gezeigt, dass in der Krise plötzlich wieder die defizitären Altersbilder der siebziger Jahre hochkommen. Das hohe Alter wird als unwerte Lebensphase gesehen und unterschwellig eine Generation zum Sündenbock gemacht. Die kompetenz-orientierten Modelle, die auch die Ressourcen im hohen Alter würdigen, wurden in der Krise wieder ausgeblendet.

Zum Teil wurden die Verhältnisse in den Alters- und Pflegeheimen scharf kritisiert. Alte und behinderte Menschen würden wie „Gefangene" gehalten. Das war doch keine Freiheitsberaubung?
Höpflinger: Die getroffenen Einschränkungen würde ich nicht so nennen. Immerhin war in der Schweiz rund die Hälfte der Corona-Toten in Alters- und Pflegeheimen zu beklagen, sodass die alten Bewohnerinnen und Bewohner abgeschirmt werden mussten. Zumal ja zu Beginn der Pandemie vielerorts das nötige Schutzmaterial fehlte. Vermutlich wurde deshalb überreagiert und der Kontakt mit Angehörigen allzu strikt unterbunden. Problematisch erachte ich vor allem, dass man auch Frauen und Männer im betreuten Wohnen diesem Regime unterzog und so ihre Autonomie stark eingeschränkte.

Was können die Institutionen aus der Pandemie lernen?
Höpflinger: Die Heime müssen die Mitwirkungsrechte der Bewohner und Bewohnerinnen sowie der Angehörigen stärken und die Selbstbestimmung mehr gewichten. Die Patientenverfügungen, die allfällige Interventionen oder Nicht-Interventionen festlegen, werden vermutlich an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Digitalisierung in den Heimen zunehmen. So oder so werden die Häufung der Covid-19-Todesfälle in einigen Alters- und Pflegeheimen und die strikten Besuchsverbote das negative Bild der Alters- und Pflegeheime verstärken. Hingegen werden betreute Wohnformen nach dieser Krise an Attraktivität gewinnen.

Und die alten Leute, die allein zu Hause leben. Gingen die vergessen?
Höpflinger: Nein, das glaube ich nicht. In den städtischen Quartieren ist die Solidarität in der Nachbarschaft geradezu aufgeblüht, zum Beispiel beim Einkaufen. Viele jüngere Leute haben erst jetzt realisiert, dass sie ältere Nachbarn haben und sie ihnen beistehen können.

Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, Strukturwandel und Arbeitslosigkeit, werden vor allem die jüngeren Frauen und Männer treffen. Wie stark wird das die Generationenbeziehungen beeinträchtigen?
Höpflinger: Die grosse Streitfrage wird sein, ob der Staat mit seinen verminderten Einnahmen in bestehende Strukturen investieren wird, was der Generation 50plus zu Gute käme, oder ob eher zukunftsträchtige Innovationen zum Zuge kommen, von denen die junge Generation profitieren würde. Die Fronten verlaufen allerdings nicht streng nach Alterskohorten. So kämpft die GrossmütterRevolution für eine konsequente Klimapolitik und solidarisiert sich auf diese Weise mit der Klimajugend. Corona wird die Generationenbeziehungen innerhalb der Familie und Verwandtschaft stärken, wie das in Krisenzeiten immer üblich ist. Hingegen könnten die sozial- und gesellschaftspolitischen Konflikte und Diskurse zwischen den Generationen wachsen. Wer zahlt die Schulden? Wo wird gespart? Wo investiert?

„Den Jungen droht der materielle Abstieg" titelte die NZZ am Sonntag. Droht nun ein Verteilkampf unter den Generationen?
Höpflinger: Das ist schwer abzuschätzen. In der Schweiz sind junge Frauen und Männer in aller Regel gut ausgebildet und somit besser gerüstet für technologische Umbrüche in der Arbeitswelt als in Nachbarländern. Das begünstigt auch die soziale Mobilität und dämpft allfällige Generationenkonflikte.

Und die Alten werden die Verlierer sein?
Höpflinger: Das ist nicht auszuschliessen. Vor allem die Neurentner müssen bei der 2. Säule, also bei den Pensionskassen, mit Einbussen rechnen. Auch ist denkbar, dass bei anhaltender Rezession die bestehenden Renten in Frage gestellt werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Staatsverschuldung wächst und eine hohe Inflation die Kaufkraft der Rentnerinnen und Rentner schmälert. Das wird sich aber erst in vier, fünf Jahren zeigen. Sicher ist: Die wirtschaftspolitischen Folgen werden viel stärker ins Gewicht fallen als die epidemiologischen. Mehr Homeoffice, mehr soziale Ungleichheit, ein stärkerer Staat sind nur einige Stichwort dazu. Der Wohlstand, wie wir ihn kannten, wird nicht so schnell zurückkehren. – 15. Juni 2020
beat.buehlmann@luzern60plus.ch

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