Der Kunsthistoriker Beat Wyss blättert in seinen Erinnerungen.

Der Kunsthistoriker als Lyriker

«Ich und der Niemand» heisst das schmale Buch des Kunst- und Architekturtheoretikers Beat Wyss. Wer ist dieses Ich und wer der Niemand? Antworten im Porträt über den 76-jährigen ausgewanderten Luzerner.Von Hans Beat Achermann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Die erste Frage stellte er: Wo er am besten ein Hemd kaufen könne? Der emeritierte Professor für Kunstgeschichte Beat Wyss hatte von Berlin herkommend seinen Rollkoffer im Zug liegen lassen. Er war aus seinem jetzigen Wohnort wieder einmal nach Luzern gereist, der Stadt, in der er aufgewachsen ist und in der er über 20 Jahre gelebt hatte. In Basel geboren, zogen seine Eltern mit den vier Kindern 1950 nach Luzern. Beat, der Älteste, war damals drei Jahre alt.

Mehr als siebzig Jahre später sitzt mir einer der bekanntesten Kunst- und Architekturtheoretiker gegenüber, der an verschiedenen deutschen Universitäten Professuren innehatte, in Bochum, in Stuttgart und zuletzt in Karlsruhe, unterbrochen von Gastaufenthalten an amerikanischen und europäischen Universitäten. Grund für seinen Kurzaufenthalt in Luzern war die Vernissage seines bislang letzten Werks, eines schmalen silbrigen Büchleins mit dem Titel «Ich und der Niemand», das im neuen Luzerner Lyrik-Verlag ars pro toto erschienen ist und Gedichte, Notate und Briefe enthält. 

Werbung für Zigaretten
Wer ist diese schillernde Persönlichkeit, die in Luzern einst Poch-Mitglied war und auf Plakaten für Parisiennes-Zigaretten Werbung machte, als Beau galt und den Militärdienst verweigerte? Das mit der Zigaretten-Werbung relativiert er gleich zu Anfang: Er sei beschissen worden. In einer Zürcher Niederdorfgasse habe ihn eine Frau angequatscht und für ein Foto gefragt. Da seine Mutter leidenschaftliche Parisiennes-Raucherin gewesen sei habe er zugesagt – und vielleicht auch, weil Eitelkeit mitspielte. 200 Franken Honorar gabs. Später sei er dann wirklich erschrocken, als er sich selber jeden Morgen vom Fenster aus auf einer gegenüberliegenden Brandmauer in Weltformatgrösse rauchen sah.

Noch heute, 50 Jahre später, wird er darauf angesprochen, was ihn inzwischen zu belustigen scheint. Um weniger erkannt zu werden, schnitt er sich damals den Schnauz ab. «Ich war eigentlich kein Zigarettenraucher, sondern hatte lieber eine Brissago oder eine Toscani und ich besitze auch eine Sammlung von Tabakpfeifen.»

Auch nicht vergessen ist bei vielen seiner alten Luzerner Bekannten, dass er den Militärdienst verweigerte, nachdem er bereits eine Infanterie-RS und einen WK absolviert hatte. Das trug ihm eine dreimonatige Gefängnisstrafe im Luzerner Zentralgefängnis am Löwengraben ein und – wichtiger: einen «Sperrvermerk für die Berufsausübung im Erziehungsbereich». Ausgelöst hatte die Dienstverweigerung der Vietnamkrieg, insbesondere auch das Massaker an der Zivilbevölkerung von My Lai 1968 durch amerikanische Soldaten. Eine Folge der Armeeverweigerung war auch, dass er von der Poch, den Progressiven Organisationen Schweiz, für eine Mitgliedschaft angefragt wurde.

Auf Bührles Lohnliste
Eigentlich wollte er nach der Matura an der Kantonsschule Luzern Griechisch und Philosophie studieren, war dann aber enttäuscht vom Professor, nicht vom Fach, und wechselte ins Hauptfach Kunstgeschichte zu Adolf Reinle, der zuvor Luzerner Denkmalpfleger gewesen war. Nach der Promotion und der Habilitation und einem Nationalfonds-Stipendium arbeitete er drei Jahre als Lektor beim Zürcher Artemis-Verlag, der damals Emil Bührle gehörte. Auch so eine Ironie: Der Dienstverweigerer Wyss liess sich von einem Waffenfabrikanten bezahlen.

«Heute bin ich ein alter Linksliberaler», sagt der 76-Jährige, der sich durchaus immer noch mit politischen Fragen auseinandersetzt, aber skeptisch ist «gegen zu viel Dogmatismus». Nicht verwunderlich für einen offenen Geist, der sich in der Antike genauso heimisch fühlt wie in der neuen Architektur. So hat er auch über die Pavillons der Biennale in Venedig geforscht und sich in der Lagunenstadt eine Zweitwohnung gekauft. In Berlin ist er mit seiner Frau in der ältesten Blockrandbebauung der Stadt zuhause. Die 19-jährige Tochter studiert in Hamburg Biochemie.

Die Sonne im Kaffeelöffel
In seiner langen Karriere als Forscher und Dozent sind unzählige Bücher entstanden, die so schöne Titel tragen wie «Trauer der Vollendung» oder «Die Welt als T-Shirt». Noch immer publiziert er. Nächstes Jahr erscheint ein grosses Werk mit dem Titel «Das Genie des Abendlands. Eine Weltgeschichte der Bürgerlichkeit». Und regelmässig schreibt er eine Kolumne in der renommierten Zeitschrift für politische Kultur «Cicero». Er findet überall geistesgeschichtliche Bezüge, sei es im Alltäglichen, in der Architektur oder in der Politik. «Auch im Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne», zitiert er im Gespräch den Architekturhistoriker Sigfried Giedion.

Es ist so etwas wie sein eigenes Credo. Irgendwie programmatisch ist auch das Cover seines neusten Buches «Ich und der Niemand». Der Titel nimmt Bezug auf Homers Begegnung mit dem Zyklopen Polyphem, die chinesischen Zeichen im Prägedruck auf silbrigem Grund sind die ältesten bekannten Schriftzeichen, gefunden auf einem Schildkrötenpanzer. «Zeichen überleben uns», sagt Beat Wyss. Und spricht damit natürlich auch sein eigenes Älterwerden an und die Beschäftigung mit dem Tod. In seinem Büchlein, das sehr viel Persönliches verrät, findet sich «Epikurs Trost», das so beginnt: Der Tod ist ein Horizont, woher kein Blick mehr zurückkommt, weil es den Tod, sagt Epikur, nur für uns Lebende gibt.

Ein «rhapsodischer Schönschreiber»
Fast zwei Stunden lang haben wir uns im Kunstmuseum-Café unterhalten, über gemeinsame Bekannte ausgetauscht, aus unseren unterschiedlichen Lebensläufen erzählt. Mit Luzern blieb er immer verbunden, auch wenn keines von seinen drei Geschwistern mehr hier wohnt. Als Beirat der Hochschule für Kunst und Design reist er regelmässig nach Luzern, trifft alte Bekannte wie die Lyrikerin Katharina Lanfranconi, die ihn zum neusten Werk ermuntert hat. An sie ist der erste Text im Bändchen gerichtet. Darin spiegelt sich sehr viel von Wyss’ Persönlichkeit und Wirken. So etwa, wenn er schreibt, dass ihn sein wissenschaftlicher Verlag als «rhapsodischen Schönschreiber» bezeichnet habe: «Solch missbilligendes Urteil schwebt als Wolke über meiner ganzen akademischen Karriere, die sich biologisch dem Ende zu neigt. Vielleicht hast Du ja recht: Ich kann mir jenes Gewölk jetzt getrost über mir ausregnen lassen.»

Da schreibt einer mit Humor und Selbstironie, so wie er sich auch im Gespräch gezeigt hat, manchmal auch ab- und ausschweifend. Und dann geht er hinaus in den Luzerner Regen, auf der Suche nach einem neuen Hemd.

9. Dezember 2023 – hansbeat.achermann@luzern60plus.ch

Das Buch «Das Ich und der Niemand» ist im Luzerner Lyrikverlag edition ars pro toto erschienen und kann im Luzerner Buchhandel bezogen werden.