„Die Alterswohnung von morgen ist schon gebaut“

Von Marietherese Schwegler

Ambulant vor stationär – zu diesem Grundsatz bekennen sich Städte und Gemeinden in ihren Altersleitbildern seit Jahren. Tatsächlich entspricht dies auch dem Wunsch der Bevölkerung, wie die neuste Befragung im Rahmen der Langzeitstudie «Age Report – Wohnen im Alter» der Age Stiftung bestätigt: Im Alter in der privaten Wohnung selbständig leben und nötigenfalls ambulante Unterstützung zur Verfügung haben, das will die grosse Mehrheit der älter werdenden Baby Boomer.

Der erste Teil des kürzlich erschienen „Age Report III. Wohnen im höheren Lebensalter“ * wertet zahlreiche Daten einer Befragung und aus anderen Quellen aus. François Höpflinger zeigt facettenreich die aktuelle Wohnsituation und die Wohnzufriedenheit der über 60-jährigen Menschen in der deutschsprachigen Schweiz auf. Im zweiten Teil werden ausgewählte Themen zum Wohnen im Alter aus verschiedenen fachlichen Perspektiven vertieft. Der Akzent liegt klar beim privaten Wohnen.

Joris Van Wezemael, Mitherausgeber und Mitautor des Age Report, stellte bei einer Buchpräsentation fest, dass das Paradigma „Ambulant vor stationär“ nicht nur einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Autonomie entspricht, sondern auch Interessen der öffentlichen Hand spiegelt. „Auch aus finanziellen Gründen sollen Alte länger in der Wohnung bleiben“, sagte er.

Bestehenden Wohnungsbestand weiterentwickeln
Da stellt sich die Frage, ob das Wohnungsangebot dieser normativen Forderung entspricht, auch in Zukunft entsprechen kann. Denn es geht bei diesem Thema nicht nur um ein paar wenige Menschen. Die demografische Entwicklung zeigt, dass die Alterung in den Städten und erst recht in den Agglomerationsgemeinden fortschreitet: Bis im Jahr 2040 wächst die Schweizer Bevölkerung im Schnitt etwa 15%, die Altersgruppe der über 65-Jährigen hingegen um über 70% und die der über 80-Jährigen gar um 120%, schreibt Van Wezemael. „Der demografische und gesellschaftliche Wandel entwickelt sich dynamischer als die Veränderungen im Wohnungsbestand. Daher kann der Bedarf an generationengerechten Wohnungen nur zu einem kleinen Anteil durch den Neubau geleistet werden.“

Das heisst: Die Alterswohnung von morgen ist mehrheitlich schon gebaut. Aber der heutige Wohnungsbestand braucht Entwicklung. Nicht nur bauliche Erneuerung, auch und vor allem die weichen Faktoren, die Gestaltung sozialer Beziehungen im Wohnumfeld verdienen mehr Beachtung.

Wohnen und Wohnumgebung
Dass es dabei nicht ausschliesslich um Wohnungen für Ältere geht, zeigt die Befragung ebenfalls: Die Mehrheit möchte gerade nicht in altershomogenen Häusern leben, sondern generationendurchmischt. Gewisse Voraussetzungen müssen aber für das altersgerechte Wohnen gegeben sein, um altersbedingte funktionelle Einschränkungen aufzufangen. So sollten Wohnungen, die neu gebaut oder umgebaut werden, hindernisfrei sein. Es geht aber insgesamt um das „Wohnen im Kontext“: Auch die Wohnumgebung, die Nachbarschaft und die sozialen Netzwerke müssen stimmen, damit die Ressourcen der älteren BewohnerInnen zum Tragen kommen können.

Wohnmobilität hängt vom Angebot ab
Alt werden in der inidviduellen Wohnung – das muss nicht einfach heissen, dass Paare oder Alleinlebende bis ins hohe Alter in ihrem Haus, ihrer Fünf-Zimmer-Mietwohnung oder Eigentumswohnung bleiben, die nach dem Auszug der Kinder oft zu gross ist. Manche sind gemäss Befragung durchaus bereit, nach der Familienphase oder der Pensionierung nochmals umzuziehen in eine kleinere Wohnung. Doch oft ist die Bestandesmiete selbst für eine grosse Wohnung günstiger als die Neumiete einer kleineren, was die Bereitschaft zum Wohnungswechsel verständlicherweise hemmt. Die erwünschte Mobilität, die auch geeigneten Wohnraum für Familien freisetzen würde, setzt voraus, dass bedürfnisgerechte und zahlbare Angebote bestehen oder entstehen.

Zusammenspiel der verschiedenen Akteure
Damit „Ambulant vor stationär“ nicht blutleere Forderung bleibt und die neue Generation älterer Menschen ihre Vorstellungen vom Wohnen im Alter realisieren können, ist es unabdingbar, dass Investoren und Hausbesitzer sich an neuen Gegebenheiten und Nachfrageformen orientieren.

Kann die Planung und Weiterentwicklung eines passenden Wohnungsangebots, von unterstützenden Dienstleistungen und einer altersgerechten Wohnumgebung einfach dem freien Markt überlassen werden? Van Wezemeal sagte, neue Kooperationsmodelle seien gefragt, Synergien müssten mobilisiert werden, um die Voraussetzungen für das private Wohnen im Alter zu schaffen und nennt in dem Zusammenhang niederschwellige soziale, pflegerische oder medizinische Dienstleistungen. Es brauche das Zusammenspiel verschiedener Faktoren; so sieht er beispielsweise den Hauswart in einer neuen Rolle als sozialer Akteur und Vermittler. Auch die öffentliche Hand soll sich für die notwendige Entwicklung eines generationengerechten Wohnungsbestands engagieren, Anreize setzen, allenfalls finanzielle Mittel vom Pflegebereich in die Wohnwirtschaft umlenken.

Van Wezemeal hat das Schlusswort: „Das Innovationspotenzial – für die Gemeinden genauso wie für Wohnungsanbieter – scheint klar auf der ‚Software‘-Komponente, also der Bespielung von Liegenschaften und der Inszenierung von Nachbarschaften zu liegen. Es braucht weder mehr spezialisierte Wohnangebote für Ältere noch die perfekte behindertengerechte oder demenzgerechte Wohnung. Vielmehr sind auf Relationen basierende Ressourcen der älteren Menschen als auch jene, die aus neuartigen Verknüpfungen bestehender Akteure und Orte entstehen, zu fördern.“

Allen AkteurInnen im Wohnungsmarkt, in der Politik und in der Stadtplanung sei das Buch ans Herz gelegt:
* Age Report III. Wohnen im höheren Lebensalter. Grundlagen und Trends. François Höpflinger, Joris Van Wezemael (Hrsg.). Seismo Verlag 2014, 258 Seiten.
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9. Dezember 2014