Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger

Glückspost

Von Yvonne Volken

Sie trudeln wieder ein, per Post, per Handybotschaft oder auch bekräftigt durch eine Umarmung, die Wünsche für ein «gutes und glückliches neues Jahr». Ein weiteres «glückliches» Jahr, müssten wir hinzufügen, wir, die wir in einem Land leben, das stets weit oben auf der ländervergleichenden Glücksskala steht. Wer sich bei uns und unter uns auskennt, fragt sich aber manchmal: Kann das stimmen?

Seit 2002 ermittelt der «World Happiness-Report» der UNO die glücklichsten Länder der Welt. Auch 2021 belegte die Schweiz hier wieder einen Spitzenplatz. Wie misst sich eigentlich dieses Glück? Ich finde Antworten auf der Webseite «Worldpopulationreview». Das Glück in diesem Ranking ist eine ausgeklügelte statistische Angelegenheit. Im Report werden zunächst Gallup-Umfragedaten aus 149 Ländern ausgewertet. Die Umfragen erfassen Ergebnisse in sechs Bereichen: Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf, die soziale Absicherung, die Lebenserwartung, die Freiheit, eigene Lebensentscheidungen zu treffen, die Grosszügigkeit der allgemeinen Bevölkerung und das Korruptionsniveau.

Interessant: Um die Daten der einzelnen Länder richtig vergleichen zu können, schufen die Forscher:innen ein fiktives Land namens «Dystopia», in dem «die unglücklichsten Menschen der Welt» leben. Dann setzten sie Dystopia als den niedrigsten Wert in jeder der sechs Kategorien fest und massen die Werte der realen Länder an diesem Wert. Alle sechs Variablen wurden gemischt, um eine einzige kombinierte Punktzahl für jedes Land zu erhalten. Die glücklichsten Länder der Welt lagen auch im Jahr 2021 allesamt in Nordeuropa, mit Finnland an der Spitze mit einem Gesamtwert von 7,842, gefolgt von Dänemark (7,620), der Schweiz (7,571), Island, den Niederlanden, Norwegen und Schweden.

Die Schweiz punktete vor allem damit, dass wir Schweizer:innen im Allgemeinen sehr gesund sind. Wir haben laut dem Report eine der niedrigsten Fettleibigkeitsraten der Welt und auch eine hohe Lebenserwartung. Wir haben ein sehr hohes Durchschnittseinkommen, das etwa 75 Prozent höher ist als das der Vereinigten Staaten. Und wir verfügen über das höchste Pro-Kopf-BIP unter den sieben führenden Ländern. Darüber hinaus gibt es in der Schweiz ein starkes Gemeinschaftsgefühl und die feste Überzeugung, dass es sich um ein sicheres und sauberes Land handelt.

Voilà! Und doch: Sind wir wirklich so glücklich, dass wir die Note 7,5 von 10 verdienen? Gerade 2021 haben die psychischen Störungen unter jungen Menschen hierzulande stark zugenommen. Wir haben eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Mehr als ein Drittel der Menschen in der Schweiz fühlen sich einsam, darunter besonders viele Jugendliche, ältere Menschen und Ausländer:innen. Auch Mani Matter sang vor Jahren schon: «Warum syt dir so truurig?». Tun wir nur so, als ob wir glücklich wären und schweigen über innere Abgründe? Vielleicht gibt es auch gar keine direkte Beziehung zwischen dem von der UNO gemessenen gesellschaftlichen Glück, zwischen dem Glück also, in einem der sichersten und reichsten Länder der Welt zu leben, und dem individuellen Glück?

Also mache ich einen kleinen Schnelltest. «Bist du glücklich?», frage ich in der Altjahreswoche 2022 Freundinnen, Nachbarn und auch meine Liebsten. Und siehe da: Selbst die Nachbarin, die sich sonst ständig beklagt über die lauten Kinder, über deren Eltern, die keinen Anstand mehr hätten, selbst diese Nachbarin sagt ja und findet ihr Glück beim Spaziergang mit dem Hund. Die Freundin, die sich gerade in den Winterferien ohne Winter befindet, meint, ja sie sei glücklich und habe auch stets Glück. Sie entschuldigt sich sogar dafür: «Ich weiss, dass es nicht allen so geht wie mir.» Der junge Freund mit kleinen Kindern sagt dann doch: «Glück – was ist denn damit genau gemeint?» Und er fügt an, dass er sich eigentlich nur beim Abtanzen in einem Club wirklich glücklich fühlt, nämlich dann, wenn pures Vergnügen und Euphorie in seinen Adern kreisen. Und ich selber? Ich bin glücklich, dass 2022 bald vorbei sein wird, denn 2023 wird bestimmt besser.

Zum Schluss noch die Frage: Was nützen denn Glückwünsche zu Neujahr bzw. können wir dem Glück auch ein wenig auf die Sprünge helfen? Oder gar «Findet mich das Glück?», wie es das Künstlerpaar Fischli/Weiss in seinem witzigen, erfolgreichen Büchlein mit dem gleichnamigen Titel formulierte. Wie also, findet mich das Glück? Das erklärte uns kürzlich Robert Waldinger in einem Interview im «Tages-Anzeiger». Der 71-jährige amerikanische Psychiater ist der vierte Direktor der «Harvard Adult Development Study», einer Studie, die seit 85 Jahren denselben ursprünglich 784 Männern aus Boston regelmässig das Glücksbarometer hinhält. Derzeit leben noch 40 der nun schon sehr alten Probanden.

«Der Schlüssel (zum Glücklichsein) ist, den eigenen Beziehungen ganz bewusst mehr Aufmerksamkeit zu schenken», resümiert Waldinger. Das sei nicht so einfach in einer Zeit der «Abnahme des sozialen Kapitals». Für mich persönlich könnte das Fazit des renommierten Psychiaters und Studienleiters zum Beispiel heissen, ich wünsche einigen Freund:innen, die mir ans Herz gewachsen und trotzdem aus den Augen geraten sind, ein glückliches neues Jahr, schicke ihnen womöglich eine von Hand geschriebene Karte – und wenn ich dabei tatsächlich Glück empfinde, teile ich dieses Glück auf der Webseite gluecksmomente-teilen.ch mit der weiten Welt. Geteiltes Glück ist ja bekanntlich doppeltes Glück.

28. Dezember 2022 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.