"Wir tun zu wenig, um die soziale Teilhabe
der Hochbetagten zu fördern"

Das hohe Alter wird zu stark mit körperlichen Defiziten verbunden, sagt der deutsche Altersforscher Andreas Kruse. Denn auch Menschen im hohen Alter hätten Potenziale - und uns durchaus etwas zu sagen. Sie müssten aber stärker in den öffentlichen Raum einbezogen werden.

Mit Andreas Kruse* sprach Beat Bühlmann

Die aktiven, reisefreudigen Pensionierten bestimmen heute das Altersbild. Von der Hochaltrigkeit wollen wir lieber nichts wissen.
Andreas Kruse: Das kommt davon, dass wir Hochaltrigkeit vorwiegend mit körperlichen Einbussen verbinden und mit Demenz assoziieren. Vor diesem Hintergrund gelten Menschen im hohen Alter kulturell und gesellschaftlich als nicht mehr interessant.

Verdrängen wir die Hochaltrigkeit, weil wir uns vor der eigenen Hilfsbedürftigkeit ängstigen?
Wir sorgen uns, selber pflegebedürftig zu werden, möchten lieber nichts von Demenz und Einsamkeit wissen. Der alte Mensch wird auf das Körperliche reduziert. Wir übersehen, dass auch Geist, Kognition und Emotion den Menschen ausmachen und deswegen Entwicklungsprozesse auch im hohen Alter möglich sind.

Woher kommt das einseitig defizitäre Bild vom alten Menschen?
Heute dominiert das Bild des dritten Lebensalters, eines Alters, das mit vielen Kompetenzen ausgestattet ist. Sozusagen als Kontrast steht dem das vierte Lebensalter gegenüber, wo vermeintlich alles weg fällt und keine Entwicklung mehr möglich scheint. Dem ist nicht so.

Was bedeutet das für die Alterspolitik?
Es zeigt, dass wir uns viel zu wenig darum kümmern, was wir tun können, um Lebensqualität, soziale Teilhabe und Selbstständigkeit hochbetagter Menschen zu fördern. Und dass wir uns viel zu wenig fragen, wie die Entwicklungsschritte, die auch im hohen Lebensalter möglich sind, gesellschaftlich nutzen könnten.

Wir sehen das hohe Alter als Warteraum für den Tod?
Fälschlicherweise, denn der Tod kann jeden Tag kommen - und jeden treffen. "Was fürchten wir uns im Alter vor dem Tod, auch der Junge muss ihn fürchten", hat Seneca gesagt. Unsere Studien haben gezeigt, dass Menschen im hohen Lebensalter ein eindrucksvolles Wissen an Erfahrungen haben, auch was die praktischen Fragen des Lebens betreffen.

Wie könnten wir dieses Wissen gesellschaftlich einbringen?
Es wäre grossartig, wenn sie diesen Reichtum an Erfahrungswissen an jüngere Menschen weitergeben könnten. Denn die körperlichen Schwächen des hohen Alters paaren sich oft mit einer starken geistig-seelischen Sensibilität, mit einem Tiefgang in existenzielle Lebensfragen. In Heidelberg versuchen wir junge Flüchtlinge und alte Menschen zusammen ins Gespräch zu bringen, das ist ein unglaublich berührendes Experiment. Doch fehlt heute leider der kulturelle und gesellschaftliche Rahmen, um solche Begegnungen zu ermöglichen.

Auch die Hochbetagten gehören auf die öffentliche Bühne?
Unbedingt. Wir müssten ihnen öffentliche Veranstaltungen anbieten, wo sie über das Alter, auch das schöpferische Alter, reden können und so den jüngeren Menschen aus persönlicher Lebenserfahrung verdeutlichen, wie gross die Potenziale des hohen Alters sind. Ich erachte das gesellschaftspolitisch als höchst bedeutsam.

Wo wäre denn der Nutzen dieser sozialen Teilhabe?
Wir haben im Rahmen unserer Studien festgestellt, dass hochbetagte Menschen, die im öffentlichen Raum über sich selbst reden, dazu beitragen, das negative Bild des hohen Alters zu korrigieren. Wir beobachten an Projekten in unserem Institut, dass junge Menschen ein besonders grosses Interesse an den Alten zeigen. Wenn sie vom Leben der 80 oder 90-Jährigen erfahren, begegnen sie einer anderen, unbekannten Welt. Wir müssten deshalb viel entschiedener versuchen, Jung und Alt zusammenzubringen. Das könnte den jungen Menschen nahe bringen, dass unser Leben ein Ende hat und dass dieses Ende in einer würdigen Weise gestaltet werden kann. Die Alten umgekehrt könnten am Ende des eigenen Lebens in der Begegnung mit Jugendlichen, die am Lebensanfang stehen, die eigene Existenz nochmals spiegeln. Ich fände es eine tolle Sache, auf diese Weise den Lebenszyklus, die Kurve zwischen den Generationen, in der persönlichen Begegnung lebendig werden zu lassen.

Wollen das die Alten?
Genau dies wollten wir mit der gross angelegten Generali Studie zur Hochaltrigkeit erfahren, bei der wir 400 Personen ausführlich befragten. Was wir von den Alten zu hören bekamen: Ich will Teil des öffentlichen Raumes sein. Ich will mich um andere sorgen können. Die Hochaltrigen wollen also nicht nur Sorge- und Pflegeleistungen empfangen, sondern auch Gebende sein: finanziell helfen, Patenschaften oder Aufsichten übernehmen, in die Schule gehen, um aus dem eigenen Leben zu erzählen, kurz: Gesprächspartner für nachfolgende Generationen sein. Dieses Sorgemotiv war die wichtigste Erkenntnis der Studie.

Hat Sie das überrascht?
Das hat uns überrascht! Wir dachten, dass sich alte Menschen lieber zurückziehen und von der Welt nach und nach verabschieden. Das Gegenteil ist der Fall: Auch sie wollen, was heute für 60- oder 70-Jährige selbstverständlich ist, von Anderen wahrgenommen werden.

Der 7. Altenbericht für die deutschen Bundesregierung, der unter Ihrer Leitung erarbeitet wurde und im Herbst veröffentlicht wird, handelt von der "Sorge und Mitverantwortung in der Kommune". Was könnten denn die Städte und Gemeinden konkret tun, um hochaltrige Personen in die Gesellschaft einzubeziehen?
Die Kommune muss viel mehr in die einzelnen Stadtteile gehen und in kleinen Bürgerzentren Angebote schaffen, die junge und alte Leute zusammen bringen. Etwa über gemeinsam besuchte Theater- oder Kinoveranstaltung diskutieren. Oder gemeinsam lesen. Die Kommunen sollten Plattformen für das bürgerschaftliche Engagement schaffen, auch für alte Personen und ihnen mit besonderen Unterstützungsangeboten wie Transportdiensten ermöglichen, mit Jungen etwas zu unternehmen. Aber sie könnten sich auch für hochverletzliche alte Menschen engagieren. Das würde das Wohlergehen der Betagten stärken. Die Pflegeversicherungen sollten deshalb kommunalen Plattformen für bürgerschaftliches Engagement für Alte mitfinanzieren.

Und so auch die Altersdepression lindern?
Unbedingt. Man geht davon aus, dass heute 20 bis 25 Prozent der 85-Jährigen und älteren unter einer Depression leiden, bei den über 90-Jährigen sind es ein Drittel bis zur Hälfte, die mehr oder weniger lang unter einer Altersdepression leiden. Das hat vor allem auch damit zu tun, dass sich viele Alte nicht mehr dem Leben zugehörig fühlen. Wenn der Partner, die Partnerin stirbt, wenn der Kontakt zur Familie verloren geht, ein guter Freund verloren geht, sind viele unversehens einsam und verzweifeln. Deshalb müssen wir viel stärker auf die Betagten zugehen und ihnen das Ohr leihen: Sie besuchen, mit ihnen etwas unternehmen, sie für Projekte gewinnen; ihnen einfach zeigen, dass sie im öffentlichen Raum gefragt sind.

Sie streichen das Potenzial der hochaltrigen Personen hervor, doch viele fürchten sich vor dieser Lebensphase und treten Exit bei. Wie passt das zusammen?
Wenn ältere Menschen glauben aus der Welt zu fallen, körperliche Einbussen erleiden und nicht mehr die Kraft finden, auf andere Menschen zuzugehen, geht der Lebenswille oft verloren - vor allem wenn der Zuspruch aus ihrem sozialen Umfeld fehlt. In solchen Momenten bräuchten sie besondere Zuwendung. Politik, Kultur, Kirchen, unsere Gesellschaft insgesamt sind extrem gefordert, um solchen Menschen zu helfen. Für diese Grenzsituationen müssen wir eine neue Kultur entwickeln. Ich finde es extrem problematisch, wenn Menschen das hohe Lebensalter erreichen und derart unglücklich sind, dass sie ihrem Leben eine Ende setzen.

Die Alterspolitik läuft doch heute in der Gegenrichtung, alle wollen sparen.
Davon wird mir auch etwas bang. Wir bräuchten deshalb einen öffentlichen Diskurs darüber, dass wir in unserer Gesellschaft - in Deutschland wie in der Schweiz - mit so vielen monetären und sozialen Ressourcen ausgestattet sind, dass wir es nicht zulassen können,  alte Menschen wegen fehlender politischer Unterstützung vereinsamen zu lassen. Wenn sie den Ausweg nur noch bei Exit oder Dignitas sehen, ist das ein trauriges Zeichen, ein unerträgliches Zerrbild unserer Gesellschaft. Und soll mir keiner mit der Ökonomie kommen! Sie ist im Kern eine wertgesetzte Entscheidung. Wie eine Gesellschaft ihre Verteilungsfragen löst, ist in hohem Masse auch eine Frage der Ethik - und nicht nur der Zahlen. - 20.8.2016

*Andreas Kruse (58) ist Professor für Gerontologie und leitet als Direktor das Institut  für Gerontologie der Universität Heidelberg. Er hat Psychologie, Philosophie und Musik studiert. Seit 2003 ist er Vorsitzender der hochkarätigen Altenberichtskommission der Bundesregierung, die den demografischen Wandel in Deutschland massgeblich beeinflusst. Der 6. Altenbericht, 2010 erschienen, thematisierte unter dem Titel "Eine neue Kultur des Alterns" die Altersbilder in der Gesellschaft;  der 7. Altenbericht, der in diesem Herbst erscheint, handelt von der "Sorge und Mitverantwortung in der Kommune - Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften".

Die nächste Veranstaltung zur "Lebensreise" findet am Dienstag, 30. August 2016, 18.00 bis 19.30 Uhr, im Kirchensaal MaiHof in Luzern statt. Der Paartherapeut Klaus Heer spricht über "Ehe im Alter - ein Auslaufmodell? Herausforderungen und Chancen der langjährigen Paarbeziehung".
www.luzern60plus.ch