Carmen San José-Otero:  Der Kiosk als Lebensmittelpunkt

Hans Beat Achermann – 23. Juni 2014
Der Kiosk bin ich, und ich bin mehr als ein Kiosk:  Sie hat es nicht so gesagt, aber als Zusammenfassung lässt es sich kaum treffender formulieren. Maria de Carmen San José-Otero besitzt seit 18 Jahren den Kiosk an der Moosmattstrasse. Die wenigen Quadratmeter Verkaufsfläche, in denen Carmen wirkt, sind mit ihrer Besitzerin zu einer Quartierinstitution geworden.

Riobo, guter Fluss, so heisst das Dorf in Galizien, in dem Carmen vor 65 Jahren geboren wurde, als Maria del Carmen Otero, eines von sieben Kindern auf einem Bauernhof.  Jetzt ist sie einfach Carmen, bietet gleich das Du an auf dem Bänkli beim Moosmattschulhausplatz, wo sie mir eine Stunde lang aus ihrem Leben erzählt: „Ein schweres Leben“, betont sie, doch das Glück und ihre Lebensfreude haben der Schwere immer auch eine grosse Portion Leichtigkeit beigefügt. Mit 17 kam sie in die Schweiz, ins fremde Land, von dem sie kaum mehr als den Namen kannte, die Sprache schon gar nicht.

Tanzen und putzen
Ihre ersten Stellen fand sie im Gastgewerbe im Service: zuerst im „Mövenpick“ am Grendel, das war 1966, später wechselte sie in den „Schwanen“, dann ins „Flora“, in dessen gedecktem Garten der legendäre Alfredo Smaldini seine „Granada“-Nummer zum Besten gab. In der Freizeit ging man tanzen: „Wir waren sieben junge Frauen, die miteinander in den Ausgang gingen, ins ‚Casino‘, ins ‚Mascotte‘, ins ‚Bristol‘, später auch ins ‚Hazyland‘. Noch immer blitzen die Augen bei der Erinnerung an diese Zeit. Mit 26 wurde sie ungeplant schwanger, musste heiraten, war bald schon alleinerziehend, und hiess fortan Carmen San José. Die Leichtigkeit des Seins war Vergangenheit, doch Carmen erinnerte sich an den guten Fluss, nur hiess der jetzt Reuss, sie liebte die neue Stadt und die neuen Leute, und sie liebte das Putzen, „das mir über die Trauer half“. Das Putzen wurde bald zu ihrem Lebensunterhalt. Sie wusste: „Ich bin stark.“ Fortan putze sie viele Jahre die Räume der städtischen Schuldirektion im Stadthaus. Sie liebte die Arbeit und die Leute, und die Leute schätzten sie. Noch immer weiss sie die Namen der damaligen Chefs und Chefbeamten: Schiltknecht, Kaufmann, Meister usw.

Morgens um sechs geht’s los
Trotz der bescheidenen Einkünfte hatte sie ein wenig gespart:  „Von 15 Franken brauchte ich 10 und 5 legte ich auf die Seite.“  Mit dem Ersparten konnte sie sich dann fast über Nacht einen Traum erfüllen:  den ältesten Luzerner Kiosk an der Moosmattstrasse zu kaufen. Seit 1996 ist Carmen eine der wenigen unabhängigen Kioskbetreiberinnen in Luzern. Vor einigen Jahren hätte der Traum beinahe ein abruptes Ende gefunden. Wegen einer Grundbesitzänderung sollte der Laden abgerissen werden. „Doch die Stadt hat mir geholfen, und die Kinder vom Schulhaus haben Unterschriften gesammelt.“  So verkauft sie nun ihre Zigis und Zeitungen, den Café und die Heftli jeden morgen ab sechs Uhr ein paar Meter weiter stadteinwärts, direkt bei der Bushaltestelle Moosmattstrasse.  „Meine Kunden sind meine Familie“, erzählt die kleine Frau mit dem grossen Herzen. 

Der  Kunde als Täter
Doch auch unter „Familienmitgliedern“  gibt es schwarze Schafe: So bedrohte sie letztes Jahr ein Kunde unverhofft mit einer Pistole. Statt eines Kaufwunsches sagte er: „Das ist ein Überfall.“ Carmen konnte es erst nicht glauben, erkannte dann die Waffe und den Ernst der Lage, duckte sich unter die Theke, rief die Polizei an. Der Täter konnte noch im Quartier gestellt und verhaftet werden. „Angst habe ich nicht“, beteuert Carmen, „ich glaube an Gott.“  Im Sommer fährt sie mit dem Car zwei Wochen nach Lourdes, Santiago, Fatima und Avila. Ein Alarmanlage schützt zudem vor Einbrechern, die es immer wieder versucht haben.  

Der Traum vom Leben in Sizilien
Was sind Deine Träume Carmen, jetzt, wo Du Dich zur Ruhe setzen könntest? „Ich möchte an zwei Orten zu Hause sein“, träumt die 65-jährige Spanierin laut: „In Luzern und in Taormina.“ Ihr jetziger Partner ist Sizilianer, zusammen möchten sie nach Sizilien auswandern, wenigstens teilweise, denn in Luzern leben noch der Sohn, die Schwiegertochter und die beiden Enkel. Italienisch spricht sie schon fliessend: „Das hat mir damals im ‚Mövenpick eine Arbeitskollegin beigebracht. Das erste Wort war ein Schimpfwort: Vafanculo.“ Jetzt kichert sie noch einmal wie damals, als 17-Jährige. Über den Pausenplatz gehen Leute, Junge und Alte, alle kennen sie, die Carmen vom Kiosk, grüssen und wundern sich vielleicht, dass der Kiosk bereits geschlossen ist. Doch sie hat Wichtigeres zu tun: Ein spannendes Leben will in einer Stunde erzählt sein, so bunt und vielfältig wie der Inhalt ihres Kiosks.