Der Flaneur ist unterwegs (16) 

Wie Corona & Co. Luzern zur Kleinstadt versenken

Eine Abneigung gegen gewerbliche Betriebsamkeit habe schon der Kulturhistoriker Kuno Müller anno 1939 Luzern attestiert, sagt Flaneur Karl Bühlmann über die kleingeistige Stadt.

Von Karl Bühlmann

Kaum hat der Flaneur die 200 Stufen der Hexenstiege hinter sich gelassen und kommt um die Ecke des Bourbaki-Panoramas, erblickt er die luzernische Version des Garten Eden, Ausgabe Post-Corona, Marke SP/Juso-Vorstoss, Kategorie Schnellschuss. In aller Herrgottsfrühe, bevor die Kunstkommission und die Wakker-Preis-Jury hätten einschreiten können, ist der Löwenplatz, wo seit Wochen die Cars mit den Touristen für das Löwendenkmal vermisst werden, in einen temporären Park umgewandelt worden. Als erstes hat Gott der Allmächtige einen Garten angelegt, sagte Lordkanzler Francis Bacon vor urdenklicher Zeit. Das kann ich auch, wird sich Luzerns Mobilitäts-Stadtrat gesagt haben, der die mobile grüne Oase in Auftrag gab und die Installierung mit Anwesenheit beehrte.

Drei Blumensäulen, fünf Bänklein, ein paar Blechstühle, Sträucher in Big-Bag mit Aufschrift «Grünräume sind unsere Leidenschaft» und 24 Pflanz- und Sitzgefässe stehen auf der Asphaltfläche herum. «Damit wird ein zusätzlicher Aufenthaltsraum für die Bevölkerung geschaffen», verheisst die Medienmitteilung – und dann noch: «Die Kosten dafür belaufen sich auf rund 20'000 Franken.» Wofür 20'000 Franken? Die 24 Gefässe sind von Lucerne Festival zur Verfügung gestellt, die Sträucher kommen aus der Stadtgärtnerei, die das «Konzept» ausarbeitete. Sind zur Kurzarbeit noch Überstunden gekommen? Oder braucht's das Geld für Gratiswürstli, um Senioren anzulocken, sich dorthin zu setzen und die links und rechts auf der Löwen- und Alpenstrasse vorbeifahrenden oder im Stau stehenden Autos zu zählen? Zum Glück für die Gesundheit und Stadtentwicklung ist die ganze Verschönerungsaktion eine temporäre Sache.

Der Flaneur begibt sich weiter fort, bis an einen anderen Ort, da sass einer den er kannte... Wilhelm Buschs Reime drehen sich im Kopf, wie der Flaneur wenig später von der Seebrücke aus in die Bahnhofstrasse einbiegt. Auch der seltsame Traum von letzthin fällt ihm wieder ein: Fahrt um 04.30 Uhr im Auto durch die schläfrige Stadt, alle Ampeln auf Gelb, von der Seebrücke her rechtswidrig und kompliziert in die Einbahn-Bahnhofstrasse. Kein Auto und Velo kommen entgegen, niemand flaniert, kein Polizist hält die Hand hoch – so geht's zügig bis zum Theaterplatz. Dort sitzt vor der Box entspannt der städtische Mobilitätsdirektor. Offenbar hat er sein Büro aus dem Stadthaus hierher verlegt. Der bronzene Schäfer von Rolf Brem selig hat einen Karton umgehängt, worauf zu lesen ist: «Zukünftig wird es nicht mehr darauf ankommen, dass wir überall hinfahren können, sondern, ob es sich lohnt, dort anzukommen (Hermann Löns, 1866-1914).» Plötzlich beginnen die drei seit Jahrzehnten dort ausgesetzten ausgehungerten Brem-Schafe brunstig zu blöken. – Der Flaneur erschrickt und merkt, dass es kein Traum ist, sondern der Herr Stadtrat leibhaftig auf dem Platz sitzt.

Hermann Löns war ein deutscher Heimatdichter, ein umstrittener (nationalistisch angehauchter) Vordenker der Umweltbewegung , sein Landschaftsideal war die Heidelandschaft. Sehr passend ist dies alles, denkt der Flaneur, wahr erst auch, als anderntags das Lokalblatt das unumstössliche fotografische Zeugnis liefert, dass der Magistrat sich tatsächlich in erwartungsvoller Pose am (noch unbedienten) Kaffeetischchen auf der Bahnhofstrasse ablichten liess. So soll es an der linken Reuss Seite bald aussehen und zugehen: Viele Sitzgelegenheiten und Veloparkplätze, keine parkierten Autos, mehr Boulevardflächen à la Paris, Verlustieren mit Pale Ale, afternoon tea & cakes, Klein-Venedig mit architektonisch charakterlosen Schaufassaden im Rücken. Und wenn die Touristen nicht mehr in Scharen kommen, wie es manche Indigene und Zugewanderte wünschen? Sitzen dann die Eingeborenen der kleingeistigen, in der Corona-Krise zum Städtchen mutierten Top-Reisedestination von morgen früh bis abends spät in der neuen Flaniermeile? Was wenn die Eisheiligen herrschen, die Schafskälte da ist, Schatten und Bise von November bis Frühling? Dürfen Heizkörper in der Heide, der ehemaligen sumpfigen Ross-Schwemme, aufgestellt werden? Verfügt die Stadtgärtnerei über genügend frostsicheres Grünzeug, um die Fläche ganzjährig zum sensationellen touristischen Must zu verwandeln?

Der Flaneur blickt über die Reuss zum am-Rhyn-Haus. Dort war in der Bel Ètage die erste Wirkungsstätte des vor fünfzig Jahren verstorbenen Luzerner Anwaltes und Kulturhistorikers Kuno Müller. Zusammen mit seiner Frau Hanni durchfror er wegen der müden Kachelöfen die Winter, was ihn aber nicht hinderte, die genügsame luzernische Seele trefflich zu beschreiben. Seine Wohnung befand sich seit 1931 gleich um die Ecke des erträumten Paradieses, an der Theaterstrasse 18. "Dem Luzerner», so schreibt er in einem Essay von 1939, "erscheint die Erde nach dem Wort vom siebenten Schöpfungstag gut, er findet sich darauf leicht zurecht und sieht auch ihre Geschöpfe und ihre Genüsse gottgewollt." Und einige Zeilen später: "Die Abneigung gegen gewerbliche Betriebsamkeit, der Mangel an Respekt vor geschichteten Geldsäcken, unterscheidet Luzern deutlich von mancher anderen Stadt in der Schweiz."

Wir leben auch 2020 hauptsächlich von dem Gottgewollten, wofür die Politik und das Stadthaus nicht verantwortlich sind: Von Pilatus und Rigi vor der Haustür, dem See und seinen Dampfschiffen, dem wunderlichen Löwen, den Fotosujets Wasserturm und Museggmauer, den von Dritten riskierten und geführten Kulturangeboten, dem globalen Tourismus. Verkauft werden Natur und Dienstleistungen, Luzerner Rägetröpfli, Swiss Knives und Schoggi-Schutzengeli, in der Westschweiz oder in Asien fabrizierte Uhren, in Bangladesh, Indien, Burma und Kambodscha hergestellte Modeartikel. Wo sind, neben dem Tiefbahnhof, die Visionen für 2050? Wer realisiert krisensichere neue Arbeitsplätze, die allzeit begehrte Produkte produzieren? Die verordnete gewerbliche Betriebsamkeit Luzerns beschränkt sich in summa – böse gesagt, der Flaneur entschuldigt sich! – auf die Schaffung mobiler Grünflächen, das Aufstellen temporärer Pop-ups auf Parkplätzen, das Bewilligen von Buvetten, der guten Ordnung bei Markt- und Marroniständen. Ist das eine Überlebensstrategie? Gemäss Kuno Müller sel.
dominieren Lässigkeit und Zufriedenheit die luzernische Seele. Was bleibt uns da anders, als die Festhütte der Schweiz weiterzuführen?

PS 1: Weil in Minneapolis der US-Cop Derek Chauvin den Afroamerikaner Georg Floyd zu Tode würgte, verbannt die Migros die Süssspeise mit Namen Mohrenkopf der Firma Dubler aus den Regalen. Ebenso Manor mit dem Schokokuss aus dem Hause Richterich. Hat ein Mohrenkopf aus Waltenschwil den Polizisten Chauvin zur Tötung angestiftet?

Ps 2: Wann endlich folgt der Vorstoss der SP/Juso-Fraktion im Stadtparlament, das städtische Areal mit dem rassistisch konnotierten Namen Mohrental unterhalb des Friedentals umzubenennen? Der Fischerverein Reuss Luzern hat's schon längst geschnallt; er schreibt seine dortige Fischzucht mit Morental an.

PS 3: Vorschlag zur Güte für die Firmen Dubler und Richterich: Morenkopf. Da jeder sechste Erwachsene in der Schweiz an Leseschwäche leidet, fällt der fehlende Buchstabe nur wenigen auf. – 14. Juni 2020

Zur Person: 
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.

karl.buehlmann@luzern60plus.ch