Die ewige Ruhe. Friedhof in Quebrada de Humahuaca, Argentinien.

„Der Tod ist ihr ins Gesicht geschrieben“

Es ist normal geworden, den Tod in eigener Regie übernehmen zu müssen. Eine Zumutung, auch eine Überforderung? Ein Sachbuch über das selbstbestimmte Sterben und eine Chronik über den Abschied von der Mutter beschreiben diese existenzielle Grenzsituation. 

                    „Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile,
                    er duldet nichts anderes neben sich.“
                                            Melitta Breznik in „Mutter“

 

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Das Sachbuch „Über selbstbestimmtes Sterben – zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung“ haben der Theologe Heinz Rüegger und der Palliativmediziner Roland Kunz geschrieben. „Mutter“, die berührende Chronik eines Abschieds, erzählt die Autorin Melitta Breznik, Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie. Beide Bücher sind eindrücklich und lesenswert, weil sie sich aus fachlicher und persönlicher Perspektive mit dem selbstbestimmten Sterben befassen.

Gott ist nicht mehr zuständig

Natürlich sterben? Den eigenen Tod als Gotteswille einfach hinnehmen? „Der Tod hat nicht länger den Charakter eines Schicksalsschlags, sondern wird immer mehr zu einer Folge individueller Entscheide: Wie, wann und wo will ich sterben?“ Ausgehend von dieser Erkenntnis aus dem Nationalen Forschungsprogramm “Lebensende“ (NFP 67) versuchen Heinz Rüegger und Roland Kunz aufzuzeigen, was selbstbestimmtes Sterben heutzutage konkret heisst. „Es ist eine mental und kulturell neue Situation, dass der Tod nicht bloss erlitten wird, sondern dass sich der Sterbende aktiv der Arbeit an der Gestaltung seines Ablebens zu widmen hat“, heisst es in ihrem Buch. Das bedeutet mehr Freiheit und Verantwortung. Und gleichzeitig eine Zumutung und Überforderung, weil „es normal geworden ist, den Tod in eigener Regie übernehmen zu müssen“.

Damit ist - trotz der vielen Schlagzeilen über Exit und Dignitas - nicht in erster Linie der assistierte Suizid gemeint. Denn selbstbestimmte Todesfälle durch Suizid und assistierten Suizid (Sterbehilfe) machen mit drei Prozent nur einen kleinen Teil aller Todesfälle aus. Das herausfordernde Thema „Selbstbestimmung beim Sterben“ werde somit völlig verkannt, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben von vorneherein in ein falsches Licht gerückt. Denn in fast 60 Prozent aller Fälle wird gestorben, wenn vorgängig medizinische Entscheidungen zum Lebensende im Spital, im Pflegeheim oder im Hospiz getroffen werden: Wir verzichten auf lebensverlängernde Massnahmen, entscheiden uns für Palliative Care oder das Sterbefasten. Nur der Sterbeort ist meistens vorgegeben. Obschon die meisten Menschen zuhause im eigenen Bett sterben möchten, ist dieser private Tod nur wenigen vergönnt.

„Im Moment gibt es kein Entkommen“

Im Buch «Mutter» berichtet die Erzählerin, wie sie ihre 91-jährige Mutter, die an starken Bauchschmerzen leidet, daheim besucht. Die Diagnose lautet Bauchspeicheldrüsenkrebs, der Tod ist unvermeidlich. In dieser Chronik des Abschieds beschreibt die Tochter die sechs Wochen, in denen sie ihre Mutter zu Hause in den Tod begleitet. Es ist ein Buch der Erinnerungen, der Trauer, der verpassten Gespräche; das Buch «Mutter» von Melitta Breznik handelt von Nähe und von Überfordertsein.

„Ganz auf mich allein gestellt und ohne die Möglichkeit, regelmässig nach draussen zu kommen und dem Sterben zu entfliehen, fürchte ich, die nächsten Wochen nicht durchzuhalten. Als Mutter etwas später erwacht, erzähle ich ihr von einer Vermittlungsstelle für private Krankenpflegerinnen, die man zwar selber bezahlen muss, dafür steht einem ein und dieselbe Pflegerin für längere Zeit zur Verfügung. Mutter reagiert unwillig und missbilligend, sie will keine fremden Menschen um sich, sieht die Notwendigkeit nicht. Im Moment gibt es kein Entkommen, ich kann hier nicht weg, kann nicht gegen Mutters Willen handeln, jeder Gedanke daran ist Verrat an ihrem Sterben.“ (aus „Mutter“)

Das selbstbestimmte Sterben hat seine Grenzen, wir leben in einem komplexen Netz von sozialen Beziehungen, kulturellen Prägungen und psychologischen Befindlichkeiten. „Totale Autonomie ist eine Illusion“, heisst es im Buch von Heinz Rüegger und Roland Kunz. Eine gewisse „Desillusionierung der Autonomie“ sei durchaus angezeigt. Jedenfalls sei es nicht zulässig, auf Kosten von anderen seine Selbstbestimmung leben zu wollen. „Wenn ein Sterbender nicht im Spital, sondern zu Hause, betreut von seinen Angehörigen, sterben möchte, ist dieser Wille nur verbindlich, wenn die Angehörigen sich dies auch vorstellen können und bereit sind, eine Betreuung zu Hause zu übernehmen. Dazu sind sie aber nicht verpflichtet“, schreiben Rüegger und Kunz. (Auch die Luzerner Philosophin Lisa Schmuckli hat sich 2019 bei einem Werkstattgespräch des Forums Luzern60plus unter dem Titel „Ärgernis Autonomie“ kritisch mit der absoluten Selbstbestimmung auseinandergesetzt: Vom Wunsch, schwach sein zu dürfen, ohne Macht und Abhängigkeit zu provozieren.)

„Ich sehe, wie sie um jede Freiheit kämpft“
Was es heissen kann, die eigene Mutter zu Hause beim Sterben zu begleiten, erzählt Melitta Breznik in ihrer Chronik des Abschieds mit nüchternen, präzisen Beobachtungen; sie sind umso eindrücklicher.

„Mutter liegt mit offenem Mund da. Sie atmet schwer und muss den Kelch des Lebens bis zum letzten Tropfen austrinken. Sie kann sich nicht mehr aus eigener Kraft aus dieser Lage befreien. Ich werde sie auf die Seite betten, möchte ein Wundliegen verhindern, denn die Haut wird dünner und brüchiger. Mutter lebt in den letzten beiden Wochen nur noch von wenigen Schlucken Wasser. Sie ist zu schwach, um mitzuhelfen, wenn ich die Bettschüssel unter ihr Gesäss schiebe. Sie willigt schliesslich verzagt ein, die Windeln zu verwenden, die ich inzwischen im Badezimmer bereit halte, um uns ein Debakel wie mit dem Wechsel vom Leibstuhl auf die Bettschüssel zu ersparen. Sie wollte so lange wie möglich nicht von mir in Windeln gewickelt werden. Ich sehe, wie sie um jede Freiheit kämpft, die ich ihr dann doch nehmen muss.“ (aus „Mutter“)

„Alles scheint zu schmelzen, sich aufzulösen“
In der Schweiz ist das Recht auf Selbstbestimmung bezüglich medizinischer Behandlungen durch die Bundesverfassung geschützt. Wenn jemand sein Leben beenden will, so streichen Rüegger und Kunz hervor, hat niemand das Recht, ihn gewaltsam daran zu hindern. „Das gilt auch dann, wenn das medizinische Personal oder Angehörige Mühe haben, den Sterbewunsch eines Patienten nachzuvollziehen.“ Um den letzten Willen wirklich respektieren zu können, sei nicht nur die Patientenverfügung, sondern als Ergänzung das Advance Care Planning ACP, die gesundheitliche Vorausplanung, hilfreich.

Kritischer beurteilen die beiden Autoren, die in ihrer Berufspraxis oft mit dem Tod konfrontiert sind, das Modell des „Shared Decision-Making“, der partizipativen Entscheidungsfindung. Vor allem dann, wenn die Rolle von Arzt und Patientin nicht klar definiert sei. Der Arzt sei allein für Diagnose und Indikation möglicher Behandlungspfade zuständig. Der endgültige Entscheid, ob eine angebotene Behandlung durchgeführt werden darf, liege beim urteilsfähigen Patienten (oder seinen Angehörigen). Der Verzicht auf jegliche medizinische Behandlung ist nicht einfach zu ertragen. Der Sterbeprozess, der seine Zeit dauern kann, nicht ohne weiteres auszuhalten, wie die Erzählerin in „Mutter“ mit kühlem Blick und ohne Wehklagen beschreibt.

„In der Nacht hat mich Mutter an den Händen gehalten und ‚ach Spatzl‘ zu mir gesagt. Heute Morgen ist ihr der Tod ins Gesicht geschrieben. Die Züge sind spitz geworden, die Backenknochen kantig, die Stirn ist glatt, das Kinn kommt deutlich zum Vorschein, die Augen liegen tief in den Höhlen. Wenn sie auf dem Rücken liegt, wölbt sich der Bauch hervor, doch Mutter lässt keine Schmerzen erkennen. Die Darmtätigkeit ist träge , manchmal kommt etwas Luft, wenig dunkler, stark riechender Urin. Ihre Finger sind spindeldürr, die rötliche Farbe ist daraus gewichen, sie sind bleich, fast transparent. Alles scheint zu schmelzen, sich zurückzuziehen, sich aufzulösen, und die Vergänglichkeit wird deutlich, weil ihr Wille gewichen ist und sie keine Kraft mehr hat, sich für etwas zu entscheiden.“ (aus „Mutter“) – 
1. November 2020

Heinz Rüegger und Roland Kunz: Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung. 205 Seiten, Fr. 28.-, Verlag rüffer & rub, Zürich 2020.

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds. 159 Seiten, Fr. 27.90, Luchterhand Literaturverlag, München 2020 (3. Auflage)

beat.buehlmann@luzern60plus.ch