Gemeinsam am Suppentopf - vor dem Pavillon im Bleichergärtli.

"Wenn der Blumenschmuck am Balkon fehlt, ist das ein erstes Zeichen für den Rückzug"

Dank der "sorgenden Gemeinschaft" können ältere Menschen länger im vertrauten Quartier leben. Die Stadt Luzern will deshalb das Modell Vicino auch in Littau und im Würzenbach umsetzen.

Von Beat Bühlmann

Edith Troxler ist eine ältere Frau aus dem Quartier Neustadt. Sie weiss, was sie an Vicino hat. Vicino hilft, wenn ein Schloss auszuwechseln oder ein Möbel zu entsorgen ist. Vicino hat im Bleichergärtli einen Pavillon aufgestellt, wo man Frauen und Männer aus der Nachbarschaft trifft, mit denen man Kaffee und Kuchen essen oder gemeinsam aus dem Suppentopf löffeln kann. Und Vicino weiss auch weiter, etwa beim Digitreff, wenn es mit dem WhatsApp mit dem Enkel nicht klappt. Edith Troxler erklärt das alles von der Videowand im Paulusheim, wo sich 160 Personen zur Plattformveranstaltung über die  "sorgende Gemeinschaft" eingefunden haben.

Neue Sorgekultur entwickeln

Klaus Wegleitner von der Universität Graz sieht die "Caring Communities", also die sorgenden Gemeinschaften, als Gegenentwurf zu einer rein wirtschaftlich organisierten Gesellschaft. Wichtig seien Orte, wo Leute sich begegnen und wo Sorge stattfinden könne. "Wenn wir miteinander ins Gespräch kommen, tun wir etwas gegen Isolation und Einsamkeit im Quartier", sagt Wegleitner. Doch nur wer verortet ist, kümmert sich auch um andere. Das ist nicht mehr selbstverständlich. In der Neustadt wohnt die Hälfte der Bevölkerung weniger als zehn Jahre im Quartier. Doch was macht ein tragfähiges Sorge-Netz aus? Es bedeute, achtsam zu sein, vor allem im Hinblick auf Menschen in belastenden Lebenssituationen. "Wenn der Blumenschmuck am Balkon fehlt, ist das ein erstes Zeichen für den Rückzug", zitiert Professor Wegleitner einen aufmerksamen Hausmeister.

Der Verein Vicino Luzern versteht sich als "sorgende Gemeinschaft". Der Pavillon im Bleichergärtli wird inzwischen monatlich von 250 Personen besucht, zunehmend auch von über 80-jährigen Frauen und Männern. "Wir sind Türöffner, um Kontakte zu knüpfen und so rechtzeitig Hilfen im Alltag zu organisieren", sagt Stellenleiterin Corinne Küng. Mit ihrem Beziehungsnetz trage Vicino dazu bei, dass insbesondere ältere Personen länger in ihrer Wohnung bleiben könnten. Heute leben in der Stadt Luzern rund 50 Prozent der über 90-Jährigen zu Hause. Nur dank Vicino, so ist von Ursula Helbing zu erfahren, könne ihre an Demenz erkrankte Mutter noch in ihrer Wohnung sein. Sie selber wohnt auswärts und kann nicht jeden Tag vorbei gehen. Seit es Vicino gibt, sei sie aber beruhigt. "Wenn meine Mutter nicht nach draussen geht, fällt das im Quartier auf", sagt die Tochter, "und ich weiss, es ist jemand da, der sich um sie sorgt."

Sorgende Gemeinschaft bedeutet, ein " Auge auf die anderen" zu haben. So sei es im Quartier aufgefallen, dass mit Frau L. etwas nicht stimmt, wie Monika Schuler von der Infostelle Demenz berichtet. Sie konnten dann Spitex, Haushalthilfe und Pro Senecute einschalten, um Frau L. im Alltag zu unterstützen. Vicino könne unkompliziert und schnell Unterstützung anbieten, betont Ruedi Meier, Präsident der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern. Die abl hat in ihrer neuen Überbauung Himmelrich dem Pionierprojekt eine Startchance gegeben, zusammen mit der Spitex. Das tat sie auch im eigenen Interesse. "Wir haben immer mehr ältere und hochbetagte Mieter, die ohne rechtzeitige Unterstützung vereinsamen."  Auch Michael Zeier-Rast, der dem politischen Beirat von Vicino angehört, lobt die neue Form der Nachbarschaftshilfe. "Vicino trägt die Alterspolitik zu den Menschen", sagt der CVP-Grossstadtrat, der selber im Neustadtquartier wohnt.  "Vicino Luzern zeichnet sich durch seine Nähe zur älteren Bevölkerung und seinen integrativen Ansatz aus", heisst es auch im Altersbericht, den der Grosse Stadtrat kürzlich verabschiedet hat.

Vicino baut das Netzwerk aus

Das Modell kann die politische Unterstützung brauchen. Denn der Luzerner Stadtrat will Vicino in weiteren Luzerner Quartieren fest etablieren und so die niederschwellige Nachbarschaftshilfe stärken, wie Sozialdirektor Martin Merki an der Plattformveranstaltung unterstrich. Im nächsten Frühjahr soll eine entsprechende Leistungsvereinbarung zwischen der Stadt und dem Verein Vicino Luzern dem Parlament vorgelegt werden. Während Vicino Neustadt im nächsten Sommer in der neuen Wohnsiedlung Himmelrich 3 an der Claridenstrasse 2 einquartiert wird, zügelt der Pavillon, zusammen mit dem heutigen Geschäftsführer René Fuhrimann, in den Würzenbach, um Vicino auch dort zu verankern. Bereits im April 2019 soll Vicino im Littauer Zentrum Fanghöfli Fuss fassen, als Standort ist die ehemalige Apotheke vorgesehen. Partner sind die Wohnbaugenossenschaft Littau WGL und die Baugenossenschaft Matt. Die jährlichen Kosten für die drei Standorte belaufen sich auf je 160 000 Franken. Später sollen auch der Matthof und das Wesemlin berücksichtigt werden.

Der Verein Vicino Luzern besteht seit zwei Jahren und bildet heute ein breit abgestütztes Netzwerk mit 14 Organisationen im Vorstand und über 25 Mitgliederorganisationen. Dazu gehören unter anderem Caritas, Pro Senectute, das Rote Kreuz, die Hochschule, Viva Luzern, Zeitgut und das Forum Luzern60plus. Das Co-Präsidium führen Tamara Renner, Geschäftsleiterin der Spitex Luzern, und Christian Vogt, Bereichsleiter Soziale Arbeit und Offene Jugendarbeit der Katholischen Kirchgemeinde. 14.12.2018
beat.buehlmann@luzern60plus.ch

www.vicino-luzern.ch