Judith Stamm. Bild: Joseph Schmidiger
Heim
Daheim statt im Heim? Ist das immer die richtige Alternative? Judith Stamm hat diesen Spruch auf einem Spitexauto mit Missbehagen gelesen und erinnert sich an ihre Zeit als Jugendanwältin.
Von Judith Stamm
Das Spitexauto am Strassenrand zog meine Aufmerksamkeit auf sich. In schwarzen Buchstaben war da ein Spruch aufgepinselt. Er lautete: «Daheim statt Heim». So, so, dachte ich, und konnte mein Missbehagen nicht recht in Worte fassen. Wollt Ihr mir etwa vor Augen führen, dass es dann im «Heim» gar nicht mehr so schön ist wie zuhause, «daheim»?!
Und wenn sich ein Eintritt in ein Heim, eine Altersinstitution, einfach aufdrängt? «Weil es nicht mehr geht.» Das ist doch die Schlüsselformulierung, mit der wir einander mitteilen, dass wieder eine Kollegin, ein Kollege aus unserer Generation, den Schritt gemacht hat: «Weisch, es isch eifach nümme gange».
Wie war es doch damals, mit unseren Eltern gewesen? Ein einschneidender Schritt, ein Vorgeschmack hatte darin bestanden, dass es Zeit gewesen war, den Autoschlüssel abzugeben. Und langsam kam dann die Frage, ob sich allenfalls der Umzug in eine «Institution» aufdränge? Nicht immer war ein ausgesprochenes Ja zur neuen Situation erreichbar. Aber auch ein stillschweigendes Dulden konnte Zustimmung signalisieren.
In meinem Beruf als Jugendanwältin hatte ich schon früher mit Heimeintritten zu tun. Die Frage stellte sich jeweils genauso delikat dar wie im Alter. «Muss ich jetzt in ein Heim», fragte etwa ein erschrockener Jugendlicher. Er hatte sich bei mir einfinden müssen, weil schon wieder eine Strafanzeige gegen ihn eingegangen war. Meine Kollegen und ich hüteten uns, eine Einweisung in ein Jugendheim als Drohkulisse aufzubauen. Aber verschweigen konnten wir auch nicht, dass diese Möglichkeit als Konsequenz für weiteres deliktisches Verhalten im Raume stand.
Manchmal verging Zeit, bis wir für einen Jugendlichen das Heim fanden, das zu ihm passte oder zu dem er passte. Einen solchen Schützling, nennen wir ihn Tom, hatte ich auch. Er konnte sich nirgends akklimatisieren. Lief immer und immer wieder weg oder fuhr am Sonntagabend, nach einem Urlaub zuhause, nicht mehr zurück. Wie gross war daher eines montagmorgens mein Erstaunen, als ich ins Büro kam und dort Tom antraf, der auf mich wartete. «Sie müssen ins Heim telefonieren» drängte er mich. «Ich habe gestern Abend den Bus verpasst, sonst nehmen sie mich nicht mehr.»
Selbstverständlich griff ich sofort zum Telefonhörer, rief den Heimleiter an und «zelebrierte» die Situation. Schilderte die Befürchtungen von Tom, man wolle ihn nicht mehr im Heim, weil er nicht fristgerecht zurückgekehrt war. Der Heimleiter stieg sofort auf meinen Ton ein, führte wortreich aus, wie sehr sie Tom vermisst hätten und wie man sich auf seine Rückkehr freue. Die Aussagen des Heimleiters quittierte ich immer, damit Tom das Gespräch mitverfolgen konnte. Ich hörte förmlich die Steine von seiner Seele poltern.
Vor mir sass ein Knabe mit einem glücklichen und erleichterten Gesichtsausdruck, wie ich ihn selten mehr gesehen habe. Und, ich gestehe es, auch für mich war dieses Erlebnis wie ein Sonnenaufgang. Was zur Wende in Toms Gemüt geführt hatte, fand ich nicht heraus. Das Heim war dieses Mal offenbar zur richtigen Zeit der richtige Platz für ihn.
Es steigen noch andere Erinnerungen in mir auf. An den grossen, massigen Walter, dem ich aufgrund einer langen Liste von Straftaten auch eröffnen musste, dass ein Heimeintritt nicht mehr zu umgehen sei. «Ich mache das nicht gerne», versicherte ich ihm. Voll Verständnis schaute er mich mit seinen grossen Augen an: «Aber es ist doch so», antwortete er, «alles hat seine Grenzen.»
Oder an Silvio. Der eine frühreife Vorliebe für fremde Autos entwickelte. Aber er brachte es fertig, sich mit einer Eingabe ans Obergericht gegen eine vorsorgliche Heimeinweisung zu wehren. Weil er ins Feld führte, er habe zuhause eine jüngere, behinderte Schwester, die sehr an ihm hänge. Wenn er ins Heim müsse, sei das für seine Schwester unerträglich. Und weil er noch darauf hinweisen konnte, dass er endlich eine Lehrstelle gefunden hatte.
Das Schicksal ereilte ihn doch noch in Form einer kurzen Einschliessungsstrafe, kurz vor seinem 18. Geburtstag. Die fremden Autos hatten weiterhin zu sehr gelockt. Aber, die kahle Zelle, die nackten Wände brachten die Umkehr in seinem Leben. Das sollte nicht seine Zukunft sein, in dieses «Daheim» wollte er nie mehr zurückkehren. Das schwor sich der junge Mann und fand auch die Kraft, seinen Vorsatz zu halten. Natürlich hatte die Jugendanwaltschaft nicht die Kompetenz, Jugendliche definitiv in ein Heim einzuweisen. Die Möglichkeit bestand darin, eine sofortige «vorsorgliche Verfügung» zu erlassen, wenn es die akute Situation gebot.
Auch hier ist eine Parallele zum Heimeintritt im Alter zu finden: Die Massnahme wurde für Jugendliche ausgesprochen, wenn es «einfach nicht mehr ging». Davon wurde sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Und es gab eine Einspruchsmöglichkeit dagegen. Bei einem Eintritt in eine Altersinstitution dürfte die Entscheidung in den meisten Fällen eine definitive sein. Denn, «es geht ja einfach nicht mehr.»
9. Oktober 2021 – judith.stamm@luzern60plus.ch
Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971-1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983-1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989-1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998-2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.