Züri by Tram

Von Judith Stamm

Es war wieder einmal ein Reisli fällig: „Züri by Tram“. Organisiert von mir. Mit von der Partie waren meine beiden Freundinnen: Heidi, 69-jährig, und Mathilde, 91-jährig. Das Wetter an unserem Reisetag war ideal, nicht zu heiss, nicht zu kühl, kein Regen, aber gelegentlich ein Lüftchen.

Um 11 Uhr herum kamen wir im Hauptbahnhof Zürich an und bestiegen Tram 14, bis zum Stauffacher. Dass es uns, aus der Innerschweiz kommend, bei diesem Namen sofort warm ums Herz wurde, versteht sich von selbst. Der erste Halt galt der Citykirche St. Jakob, die sich neben der Tramhaltestelle befindet. Eine freiwillige Helferin gab uns Auskunft über das vielfältige Programm, das in dieser Kirche abläuft: Predigten mit Schriftstellern, Konzerte, Meditationen, Open Yoga, Tanz, Gemeinsames Essen ... Was immer man sich an attraktiven Veranstaltungen vorstellen kann, im St. Jakob findet man sie.

Dann nahmen wir die Stauffacherstrasse unter die Füsse bis zum Helvetiaplatz. Wieder so ein ansprechender Name, mitten in der Stadt Zürich! Ich erklärte meinen Begleiterinnen, dass der Helvetiaplatz jeweils Endstation für Aufmärsche und Demonstrationen aller Art sei. Dass da aber auch schon eine Fussballmeister-Feier stattgefunden habe.

Unsern Hunger stillten wir im renovierten Restaurant des Volkshauses. Auch das ein geschichtsträchtiger Ort. 1910 gegründet als erstes alkoholfreies Volkshaus der Schweiz. Nicht nur die Gewerkschaften und die SP waren von Anfang an dabei gewesen. Auch der Frauenverein (damals noch für „Mässigkeit und Volkswohl“ später „Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften“) erbrachte hier schon früh seine Pionierleistung, das Betreiben von alkoholfreien Wirtschaften. Damit wurde Gegensteuer gegen den seit der Zeit der Industrialisierung grassierenden Alkoholismus gegeben, der ganze Familien ins Elend stürzte.

Tram 8 führte uns nach dem Mittagessen zunächst zum Bellevue und zur Besichtigung des zum Glück an diesem Tag unverstellten Sechseläutenplatzes. Wir schnappten uns drei Stühle und setzten uns, wie viele andere Menschen auch, an die Sonne. Ein richtiges Gefühl des „Dolce far niente“ breitete sich in uns aus. Und ich dachte mit Vergnügen daran, dass die Stimmbürgerschaft der Stadt in naher Zukunft darüber wird abstimmen können, wie sehr dieser wunderbare, grosszügige Platz belegt werden darf. Eine entsprechende Initiative ist bereits eingereicht. Es gibt da Interessenkonflikte. Eine Belegung des Platzes durch den Zirkus Knie, das Sechseläuten, das Weihnachtsdorf und andere Spektakel bringt Geld in die Stadtkasse. Aber einigen Bürgerinnen und Bürgern wurde es zu bunt. Sie möchten den Platz als Freifläche und Erholungsort durch das Jahr hindurch vermehrt geniessen können.

Weiterreise wieder mit Tram 8 zum Römerhof. Dort verschoben wir uns nur über die Strasse zur Dolderbahn. Eine Zahnradbahn aus dem 19. Jahrhundert mit interessanter Geschichte. 2004 wurde sie total renoviert. Erster Halt war das Waldhaus Dolder. Wir hatten Glück, es ist noch offen. Ende September 16 wird es geschlossen. Dann abgerissen. Und dann ein Neubau hingestellt. Auf der Terrasse tranken wir inmitten des Grüns der Bäume unseren Nachmittagstee. Und erholten uns von der Betriebsamkeit der Stadt.

Aber natürlich liessen wir es dabei nicht bewenden und fuhren weiter bis zur Endstation der Bahn. Die ist Teil des Hotelkomplexes des Grand Hotel Dolder. Das „Luxushotel Dolder Grand“, wie es sich heute nennt, wollten wir uns nicht entgehen lassen. Umso mehr als Mathilde dort vor siebzig Jahren einmal Tanzpartnerin an einem Offiziersball gewesen war. Bis wir von der Endhaltestelle der Dolderbahn auf die Terrasse des vom Künstler Rolf Sachs neu gestalteten All-Day-Dining-Restaurants Saltz mit Aussicht auf See und Berge vorgedrungen waren, mussten wir einen rechten Fussmarsch hinlegen. Aber es lohnte sich total. Wir fühlten uns weitab von allem in paradiesischen Höhen mit bester Luft, mit Ruhe, mit friedlicher Stimmung. Und selbstverständlich tranken wir hier unser Cüpli, das immer den Höhepunkt unserer „Reisen“ darstellt. Das Cüpli wurde uns als Mauler Chardonnay-Sekt aus Neuenburg vorgestellt, entsprach in der Qualität der Umgebung, wurde aber ohne jeden Höhenzuschlag angeboten! Unsere Wiederkehr ist gesichert!

So um 17 Uhr herum erfasste uns das Reisefieber. Und wir machten dieselbe Strecke wieder, aber rückwärts. Allerdings führte uns das Tram 3 zum Hauptbahnhof. Wir erreichten in allerletzter Minute den überfüllten Zug 17.35 Uhr nach Luzern.

Es war ein richtiger Kulturschock, von den Höhen des Dolder Grand mitten in die Gesellschaft der Werktätigen zu tauchen, die in der Rush Hour die Züge füllt. Da es heute üblich ist, Gepäck und Rucksäcke auch auf die Sitzflächen zu stellen, fanden wir auf freundliches Nachfragen hin ohne Schwierigkeiten noch drei Plätze. Und hatten Zeit, während der Fahrt die vielfältigen Eindrücke dieses abwechslungsreichen Tages zu verarbeiten.
6. August 2016

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.