Judith Stamm.                                                                            Bild: Joseph Schmidiger

Bundesräte – unsere Royals?

Von Judith Stamm

In seinem neuen Buch «Bundesratswahlen» beschreibt Urs Altermatt die bewegten Jahre der Staatsgründung von 1848 bis 1875. Da wurde in unserem Lande eine Bundesverfassung geschaffen, ein Bundesrat gewählt, und ein politisches Gebilde namens Schweizerische Eidgenossenschaft zum Funktionieren gebracht.

Zu einem geeigneteren Zeitpunkt als jetzt, hätte das Buch nicht erscheinen können. Haben wir doch in der aktuellen Zeit der Pandemie wieder einmal so richtig erlebt, «was wir an unserem Bundesrat haben». Er hat eine ganz besondere Rolle gespielt. Und hat sogar für eine gewisse Zeit die «ausserordentliche Lage» gemäss Epidemie-Gesetz ausgerufen und zum Schutz der Bevölkerung scharfe Massnahmen angeordnet.

Unseren Bundesrat als Institution gibt es seit 1848. Möchte jemand sagen, diese Institution sei veraltet und gehöre ersetzt? Sicher nicht! Für diese Beständigkeit gibt Urs Altermatt im letzten Abschnitt seines Buches eine Erklärung: «Der Bundesrat stellt eine institutionelle Schöpfung von 1848 dar, die in Europa einzigartig ist. Eine Institution sui generis, die alle Krisen und Kriege auf dem europäischen Kontinent des 19. Und 20. Jahrhunderts überstanden und wesentlich zur Identität und Kohäsion der Schweizerischen Eidgenossenschaft beigetragen hat. Die entscheidenden Weichen wurden in der Periode von 1848 bis 1874 gestellt».

Fülle an Informationen

Es geht im Buch um unsere Landesväter, welche in der Zeit von 1848 bis 1875 das oberste Amt im Lande innehatten. Immer etwa wieder gibt es Hinweise auf die Zeit vorher, als die Kantone zu Tagsatzungen zusammenkamen. Oder auf die weiterführenden Entwicklungen, die in dieser Phase ihren Anfang genommen hatten.

Ausführlich und spannend wird geschildert, wie es zur Wahl der Bundesräte kam. Darin eingebettet ist immer auch eine Würdigung der Persönlichkeiten. Ohne eine Hausmacht war kein Erfolg beschieden. «Hausmacht» ist ein zu anonymer Begriff. Es ging um Gruppierungen. Parteien im heutigen Sinne gab es nicht. Aber Gruppierungen. Auch über die Entwicklungen dieser Gruppierungen vernehmen wir viel: radikal, liberal, Mitte, Zentrum. Jedenfalls waren sie alle «bürgerlich».

Auch die Konfessionszugehörigkeit spielte eine Rolle. Katholiken wurden in den Bundesrat gewählt, aber solche, die einer «bürgerlichen» Gruppierung angehörten. Dann fiel der Bevölkerungsreichtum eines Kantons ins Gewicht. Einen besonderen Fall stellten die Katholisch-Konservativen und unter ihnen die Luzerner dar. Luzern hatte den Sonderbund angeführt, das wurde lange, lange nicht verziehen. Und Sozialdemokraten gab es erst mit der aufkommenden Industrialisierung. Nicht vergessen werden darf, dass alle diese Gruppierungen von markanten Persönlichkeiten geführt wurden. Deren Wirken wird eingehend geschildert. Und es wird klar: Mit ihnen verdirbt man es sich besser nicht.

Natürlich würdigt Altermatt auch die erste Bundesverfassung von 1874. In dieser wurden neu die direktdemokratischen Volksrechte eingeführt.  Dazu schreibt er: «Die erste Bundesverfassung markierte eine Zäsur auf dem Weg zur modernen Schweiz. Erst jetzt wurden aus Zürchern, Bernern und Solothurnern, aus Tessinern, Freiburgern und Waadtländern wirkliche Schweizer.»

Der Autor beschreibt auch immer wieder überraschende Kleinigkeiten, welche die Lektüre auflockern. Dass offenbar 1869 in der Armee der Tschakko durch das «Käppi» ersetzt worden sei. Oder dass 1873 der Bundespräsident den Schah von Persien als Staatsgast durch die Schweiz geführt habe. Als diesem in einem Geschäft in Genf das «mechanische Kunststück eines singenden Vogels» sehr gefiel, habe ihm der Gastgeber diesen Vogel im Namen der Eidgenossenschaft zum Geschenk gemacht. Kostenpunkt: Fr. 40 000. Das habe in der Presse viel zu reden gegeben! - 17. Januar 2021

Urs Altermatt (1942) war von 1980 bis 2010 ordentlicher Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg, der er auch einige Jahre als Rektor vorstand. Er ist Autor mehrerer Bücher über Themen der Zeitgeschichte und hat ein Bundesratslexikon herausgegeben.

Urs Altermatt: «Bundesratswahlen – Vom Unruheherd zur stabilen Republik»,NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, 2020. ISBN 978-3-03810-478-0

 

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.