Die vier Jahreszeiten von Alfred Sidler. Turnhallenwand Dulaschulhaus

 

Der Flaneur ist unterwegs (22) von Karl Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Fotos)

Burger & Müesli

Am Anfang stand ein Titel in der Online-Ausgabe der Luzerner Zeitung: Im Bruchquartier wurde ein 40 Millionen Jahre alter Findling entdeckt. Er wiegt so viel wie zehn Nilpferdbullen. Der Flaneur hat bisher keinen Hippotamus amphibius leibhaftig in Luzern gesehen, weiss aber aus Brehms Tierleben, dass ein solcher seltener Koloss bis zu zwei Tonnen wiegen kann. Angesichts des Umstands, dass bis 1971 in besagtem Quartier der Viehmarkt war, hätte man auch schreiben können, der Findling sei so schwer wie 24 Schweizer Kühe. Oder wiege so viel wie 17'000 mit Mais gemästete Suppenhühner. Aber damit wäre die Exotik im Titel verloren gegangen. Ich mache mich auf die Suche nach der Fundstelle des Findlings.

Vor lauter Rechnerei verpasst der Flaneur, von der Baselstrasse herkommend, den Eingang in die Bruchstrasse und gerät in die parallel verlaufende Gibraltarstrasse. Das ist egal, der Name der kurzen Achse ist hierzulande so seltsam wie der Nilpferdbulle. Schickte der eidgenössische Stand Luzern einst die schlimmsten Sträflinge zum Galeerendienst in die Wasserstrasse von Gibraltar? Die luzernische Gibraltarstrasse war früher die Verbindung zwischen Sentisvorstadt und dem Frauenkloster Sankt Anna im Bruch, das heute auf Gerlisberg weiterlebt.

Gibi 6 Gibraltarstrasse Foto: Joseph Schmidiger

Auf dem ehemaligen Klosterareal hat seit 1959 die Kantonspolizei ihr Hauptquartier. Doch ich stehe vor dem zweistöckigen Backsteingebäude 33-35, hier verarbeitete einst die Molkerei Galliker die Milch, die von den Bauernhöfen rund um die Stadt abgeholt wurde. Der Flaneur erinnert sich an den blauen Saurer-Lastwagen Modell 1956 mit den scheppernden Milchkannen auf der Ladebrücke, der zweimal täglich auf den Hof meines Vaters kurvte.

An der nächsten Querstrasse wiederum ein für die lokale Nomenklatura untypischer Name: Wilhelmshöhe. Nein, wir sind nicht Kassel, hier geht’s nicht zum Herkules und Weltkulturerbe Bergpark und Schloss Wilhelmshöhe hinauf. Sondern zu dem übers Quartier thronenden Riegelbau, der sich Schönegg-Schlössli nennt und auf eine geschäftstüchtige Babette Hurter-Wangler zurückgeht. Sie unterhielt dort eine Fremdenpension. Seit dem Millenium ist die luzernische Wilhelmshöhe ein Hotspot globaler Digitalkultur – vielleicht auch bald einmal Weltkulturerbe. Das internationale IT-Unternehmen AXON hat seinen Hauptsitz im Schlössli. Es war, vor Google, federführend in der Entwicklung digitaler Landkarten und spricht vom «Silicon Valley der Zentralschweiz».

Schloss Wilhelmshöhe Foto: Joseph Schmidiger

Zurück in die Niederung suche ich vergebens das Haus Nr. 15, wo Hafnermeister Arnold Stengele seine Werkstatt hatte. Seine älteste Tochter Louise war lange Zeit hauptsächlich Haushalthilfe und konnte ihre vielseitige künstlerische Begabung nur abends und am Wochenende ausleben. In ihrem dritten Lebensabschnitt im Alters- und Pflegeheim «Alp» in Emmenbrücke schuf sie als «Lou» ein reiches bildnerisches Werk, das hierzulande noch immer auf grössere Beachtung wartet. Leider machte niemand rechtzeitig Harald Szeemann vom Museum der Obsessionen auf die faszinierendenden Traum- und Innenweltbilder der 1993 im Kurhaus auf Sonnmatt verstorbenen «Lou» aufmerksam. In der Sammlung des hiesigen Kunstmuseums ist kein Werk von ihr vorhanden.

Rechts zweigt der Gibraltarrain als kurvige Bergstrasse in die Höhe ab, nach links führt mich die Schützenstrasse in die Bruchstrasse. Der Schumacherplan von 1792 zeigt, dass es im Bruch einen Schiessplatz gegeben hat, bei den Magazinen und Stallungen der von Moos’schen Eisenwerke. 1888 erst wurde er an die Horwerstrasse verlegt. Das zum Schiessplatz gehörende Restaurant Schützengarten am Eck Schützenstrasse-Bruchstrasse überlebte bis vor ein paar Jahren; Liebhaber von Alpeneiern kamen dort auf ihre Rechnung. Gegenüber prunkt seit 1993 das neue Staatsarchiv, postmoderne Architektur mit Natursteinfassade, geplant vom Büro Gassner Ziegler Partner. Es steht auf dem ehemaligen Viehmarktareal. Hier erfüllte sich die Umkehrung des Bibelwortes Das Wort ist Fleisch geworden: Statt Ausrufe der Vieh- und Schweinehändler jetzt stiller Ort des öffentlichen und wortgewordenen Gedächtnisses mit Akten und Nachlässen.

Staatsarchiv Foto: Joseph Schmidiger

Schwach erkennbar ist am nächsten Gebäude die Anschrift Ganthaus, von 1918-1934 war dort die Suppenanstalt der Einwohnergemeinde untergebracht. Auf der anderen Strassenseite ragen hintereinander die Beschriftungen Jüd. Metzgerei, Jet Wash, Haar Schneiderei übers Trottoir. Hinter dem Durchgang befindet sich das Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde Luzern. Wieder zurück nach links kommt das Hotel Drei Könige. Traurig schauen hinter den Fenstern im ersten Stock die Königsfiguren auf die Strasse hinunter; am Erker im zweiten Stock markieren die Fahnen USA, Europa und Indien die Gäste, auf die man nach der Pandemie wieder hofft.

Hotel Drei Könige Foto: Joseph Schmidiger

Nach Passieren der querenden Klosterstrasse fallen am Haus Nr. 44 die an der Fassade im zweiten Stock aufgemalten Worte Apparate, Gasbadeöfen, Gasbefeuerungs-Artikel auf. Sie lösen in diesem Quartier, in dem sich, nicht weit entfernt, seit 1912 auch die Synagoge befindet, keine Irritationen aus. In Nr. 44 hatte Alfred Sidler aus Werthenstein, der seine Lehre im städtischen Gaswerk machte und 15 Jahre dort arbeitete, 1913 ein eigenes Installationsgeschäft eröffnet. Die Zeit war ungünstig, der Erste Weltkrieg tat das Seinige, der Kleinunternehmer fallierte und arbeite fortan als Installateur und Reparateur in der Viscosefabrik in Emmenbrücke, die Anschriften blieben. Sein Sohn, ebenfalls mit Namen Alfred, wird Kunstmaler, unterrichtet an der Kunstgewerbeschule und erhält 1963 den Kunstpreis der Stadt. Für den Flaneur ist er einer der grossen und gleichzeitig stillen Künstler und Pädagogen der Zentralschweiz. Seine künstlerische Entwicklung führte von der gegenständlichen Landschaft und Figurendarstellung der Frühzeit in behutsamen Schritten zur späten abstrakten Bildwelt, in die er seelische Eindrücke und auf wesentliche Farbformen reduzierte Lebenserfahrungen einarbeitete – zu Unrecht auch ein Verkannter.

Synagoge  Foto: Joseph Schmidiger

Das Ladengeschäft im Nachbarhaus wirbt über dem Schaufenster mit Burger & Pizzas. Im Balkon darüber hängt neckisch eine Geburtsanzeige mit dem Hinweis Lenja -Sie lebt für Müesli seit 29. 10. 2020.

Lenja, sie lebt für Müesli Foto: Joseph Schmidiger

Bei der Synagoge mit den mosaischen Gesetzestafeln über der Pforte quert der Flaneur die Kasimir-Pfyffer-Strasse. Sie ehrt den bekennenden Liberalen. Pfyffer war Richter, Grossrat, Nationalrat und erster Stadtpräsident, wohnte allerdings am Mühlenplatz 10. Das unterschiedliche Nebeneinander, die Diversität der Lebensformen, Religionen und Gesinnungen, das Anekdotische und Gesellige sind typisch für die Bruchstrasse. Das Quartier abseits des historischen Stadtkerns hat sich erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Mit seiner jungen und jung gebliebenen Bevölkerung, den kleinen Läden und Werkstätten, den erker- und balkonbewehrten Jugendstil-Miethäusern neben gesichtslosen Bausünden aus jüngerer Zeit, ist es ein Biotop verschiedenster Kulturen. Da hat’s auch Platz für die Storchenstube, die Heilsarmee, Coiffeur Capelli Diavolo oder das Häxelädeli für ein magisches Leben.

 

Prosaischer wird’s weiter oben. Das mit Dachreiter dekorierte Säli-Schulhaus wurde 1898 eingeweiht und stand damals noch auf freiem Feld. Die 1100 Schülerinnen und Schüler wurden beim Betreten mit eingemeisselten Merksätzen angemahnt: Lern, um zu leben – Leb, um zu lernen. Weil der vergangene Monat, wie Obermeteorologe Felix Blumer sich wiederholt, seit langem der kälteste April war, sei aus der Schulordnung von 1898 zitiert: Die Schulzimmer sind so zu heizen, dass die Thermometer in denselben bei Beginn des Unterrichts nicht unter 12 Grad zeigen

Auch Alfred Sidler ging hier in die Primarschule. Ich wandere zum 1933 eröffneten Dula-Schulhaus gegenüber, einem Pionierwerk des Neuen Bauens nach Plänen von Albert Zeyer und benannt nach Seminardirektor Franz Dula, dem Förderer der Lehrpersonen-Ausbildung. 1945 erhielt Alfred Sidler den Auftrag zu einem Wandbild an der Betonwand vor dem Eingang in den Turnhallentrakt. Bei der Eröffnung 1933 war nämlich kein Geld für die künstlerische Ausschmückung vorhanden gewesen. Sidler schuf das Fresko Die vier Jahreszeiten, aufgeteilt in vier Einzeldarstellungen, mit stilisierten Figuren. Das Werk ist noch immer da, mit etwelchen Kratzern zwar, in die Szene mit dem Frühling wurde inzwischen eine Türe reingeschnitten. Die Farben sollten längst aufgefrischt werden, und zu einer Beschriftung mit Titel und Schöpfer hat’s immer noch nicht gereicht.

Fresko Die Vier Jahreszeiten von Alfred Sidler. Foto: Joseph Schmidiger

Der Flaneur fragt sich, ob es Sidlers Wandbild in der Bus-Wartehalle Eichhof am Ende der Strasse, die dann Taubenhausstrasse heisst, gleich ergeht. Also nimmt er die weiteren sechshundert Meter unter die Füsse. Unterwegs gibt’s eine Pause im Lindenpark, um dort Hugo Siegwarts Brunnenfigur Wilhelm Tell in Bronze die Reverenz zu erweisen. Dieser Tell ist kein martialischer Nationalheld, nicht kämpferisch wie Siegwarts Schwingergruppe auf dem Inseli, eher ein fröhlicher Wandersmann auf dem Weg zur Försterliesel im grünen Wald, wo die Rehlein grasen. Auch hier keine Beschriftung, auf der Rückseite des Fusses hat sich der Künstler verewigt, ebenso der Bronzegiesser.

Bei der Haltestelle Eichhof, zugleich Betriebsgebäude von EWL und VBL, angekommen, erlebt der Flaneur auf der Vorderseite eine böse Überraschung. Das Fresko ist mit Brettern zugenagelt, keine Information weshalb oder dass sich dahinter ein Wandbild mit Knaben beim Knebelspiel verbirgt. Es war 1939 der erste öffentliche Auftrag für den 34jährigen Alfred Sidler gewesen, der beim ausgeschriebenen Wettbewerb vor Hans Erni gesiegt hatte. Die Studie trug den Titel Jugenderinnerungen und nahm Bezug auf den Dünkelweiher in der Nachbarschaft. Die Stadt will die Haltestelle, ein schützenswerter Bau von Carl Griot, in ein weiteres Beizli verwandeln. Es herrscht schliesslich grosser Mangel in der Stadt an konsumierbaren Angeboten, hausgemachten Gebäcken, vegetarischen Menüs, Kaffee und Wohlfühlatmosphäre am Strassenrand und vor Lichtsignalanlagen. Die Baufirma KruBau hat offenbar im Hinterraum des geschlossenen Kiosks ein Depot eingerichtet. Eine weitere krumme Sache in Sachen Kunst im öffentlichen Raum.

Zuhause erst fällt mir ein, dass ich den Fundort des zehn nilpferdbullenschweren Findlings aus den Augen verloren habe. Kein Wunder, die Flaniermeile war 2000 Meter lang. Das entspricht der Länge von 20 Fussballfeldern. Oder von 83 Tennisfeldern. Oder von wie viel Auslauf für Schweizer Legehennen? Gemäss EU-Norm hätten sie Anrecht auf 2.5 Quadratmeter Auslauf. Man rechne!

Karl Bühlmann Foto: Joseph Schmidiger

Zur Person: 
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.

karl.buehlmann@luzern60plus.ch