Meinrad Buholzer (Bild Joseph Schmidiger)

Scheitern an Gormans Hügel

Von Meinrad Buholzer

Kürzlich im Radio: Eine Sendung, in der sich eine amerikanisch-schweizerische Musikerin über Authentizität ausliess. Wenn ich sie – in der Sprache, die hörbar nicht die ihre war – richtig verstanden habe, dann hat sie Probleme mit Weissen, die Jazz und Blues spielen, denn Weisse haben nicht die Erfahrungen gemacht, aus der heraus Afroamerikaner den Jazz und den Blues entwickelt haben. 

Was solche Statements ignorieren: Dass Musik nicht in der Retorte im Labor entsteht. Stets greift sie auf Vorgängiges zurück, vermischt sich mit unterschiedlichsten Einflüssen, hält sich nicht an kulturelle, ethnische, geographische und politische Grenzen. Ein Reinheitsgebot für Musik (und jede Kunst) ist eine blutleere Kopfgeburt. Jazz ist unbestritten von afrikanischen Rhythmen geprägt, doch in seinem amerikanischen Biotop hat er auch andere, nicht-schwarze Einflüsse aufgesogen (z.B. im von Weissen beherrschten Rotlicht-Milieu von New Orleans). Die African-American-Spirituals (früher Negro-Spirituals) sind nicht denkbar ohne Kirchenlieder der Methodisten und Baptisten. Zudem werden Jazz und Blues zum grössten Teil auf Instrumenten gespielt, die ausgerechnet weisse Männer erfunden haben. Wer heute auf einem neuen Puritanismus besteht, verbündet sich unfreiwillig mit jenen, die Farbige von Sinfonieorchestern fern halten wollten und fanden, sie seien gar nicht fähig diese Musik zu spielen.

Die derzeitige Reinheits-Hysterie hat – nach ihrem spektakulären Auftritt an Bidens Inauguration – auch die Lyrikerin Amanda Gorman erreicht. Als es um die Übersetzung ihres Gedichtes ging, sahen die Anwältinnen der Authentizität ihre Stunde gekommen und inszenierten Shit-Stürme. Weisse Übersetzerin? Geht nicht. Mann als Übersetzter schon gar nicht. Haben ja nicht die Erfahrung einer schwarzen amerikanischen Frau. In Holland und Spanien mussten sich die Übersetzer erster Wahl zurückziehen. Aber wer darf dann, wenn man diese Ideologie zu Ende denkt, Gorman überhaupt noch übersetzen? Nur Amanda Gorman selbst, denn jede Hörerin, jeder Leser bringt etwas in den Text ein, das nicht authentisch Gorman ist. Das kann man als Bereicherung oder aber (wie die Reinheits-Fanatiker) als Verfälschung und Missbrauch sehen. Da aber die Autorin selber den Text der ganzen Welt vortrug, hat sie ihn frei gegeben und einer Dynamik überlassen, die sich ihrem Einfluss entzieht. Das ist das Risiko, die Gefahr des Scheiterns, aber auch die Chance aller Kunst.

Für die scheiternde Variante steht der Verlag Hoffmann und Campe, der für die Übersetzung, in vorauseilender Anpassung an den Zeitgeist, ein Trio engagierte: zwei Politologinnen und eine echte Übersetzerin. Das Elend fängt schon beim Titel an: Zu «The Hill We Climb» fiel ihnen nichts Besseres ein als ein fades «Den Hügel hinauf». Der Titel lasse nichts Gutes erhoffen, schrieb die deutsche Literaturkritikerin Mara Delius, und: «Wer nachliest, wird tatsächlich enttäuscht.» Einen Hügel zu erklimmen (nur eine der Möglichkeiten) ist für dieses Team offenbar zu anstrengend, es bewegt sich lieber auf Trampelpfaden mit verbalen Leitplanken.

Schlimmer noch, dass es der Hard-core-Fraktion der politischen Korrektheit gelungen ist, den Inhalt des Gedichtes praktisch auszulöschen.

We are striving to forge a union with purpose

To compose a country committed to all cultures, colors, characters and

conditions of man.

So der Text, der für Offenheit und Überwindung von Grenzen plädiert. Statt dessen wird er zum dogmatischen Schlachtfeld der einzig zulässigen Interpreten. Statt Hürden abzubauen, werden Mauern hochgezogen, wird das weite Feld durch ideologische Schrebergärtchen ersetzt und mit Schranken versehen, die nur mit der richtigen Engherzigkeit und Engstirnigkeit passiert werden dürfen. Dass sich diese bigotten Ladenhüter als «divers» bezeichnen ist, milde ausgedrückt, Etikettenschwindel.

 

18. Mai 2021
meinrad.buholzer@luzern60plus.ch

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.