Maria Waser (Mitte) hat die aus Charkiw geflüchteten Ukrainerinnen, die 76-jährige Tamara (links) und deren Tochter Tetjana (48), aufgenommen.

Dankbarkeit trotz ungewisser Zukunft

Die pensionierte Ärztin Maria Waser, ehemaliges Flüchtlingskind des Prager Frühlings, hat selber erlebt, was es heisst, alles zu verlieren und in einem fremden Land neu anzufangen. Deshalb hat sie nach Kriegsausbruch in der Ukraine spontan zwei Frauen aus Charkiw in die Familie aufgenommen.Von Monika Fischer (Text und Bilder)

Sie war elf, als am 21. August 1968 die Panzertruppen des Warschauer Pakts alle Hoffnungen des Prager Frühlings zerschlugen. Ihre Familie war damals in der Schweiz in den Ferien und kehrte nicht mehr zurück. Maria Waser wurde von einem Tag auf den andern zum Flüchtlingskind und erzählt: «Die Integration unserer vierköpfigen Familie in der Schweiz verlief zumindest für mich ohne grössere Traumata und bezüglich Bildung optimal. Dies habe ich dem Engagement unserer damaligen Gastfamilie, die uns für sechs Monate unkompliziert aufgenommen hat, und unserer temperamentvollen Mutter, die zum Glück ein paar Brocken Deutsch konnte, zu verdanken. Diese engagierte sich im Haushalt der Gastfamilie und im Dekogeschäft der Gastmutter. Es war selbstverständlich, dass wir am familiären und gesellschaftlichen Leben der Familie Trösch vollumfänglich teilnahmen. Aus dieser Win-win-Situation ergab sich eine lebenslange Freundschaft mit der ganzen Familie.»

Spontaner Entscheid
Aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen dachte Maria Waser beim Ausbruch des Krieges in der Ukraine sofort daran, geflüchtete Menschen in ihr grosses Haus aufzunehmen. Ihr Mann Marco und die drei erwachsenen Kinder zeigten im Familienchat ihr Einverständnis. Sie überlegte nicht lange und handelte, als eine ukrainische Studienkollegin der Tochter sie bat, zwei Bekannte aus Charkiw aufzunehmen. In der Kaserne in Bülach holte sie Mitte März Tamara (76) und deren Tochter Tetjana (48) ab. Die zwei Frauen waren mit zwei Plastiktaschen und dem Hündchen Drago planlos losgelaufen, als die Bomben fielen, und kamen mit dem Zug über Polen nach Zürich. «Wir sind sehr dankbar, hier sein zu dürfen», schreiben sie mittels Google-Übersetzer auf ihrem Smartphone.

Erschwerte Kommunikation
An vier Vormittagen besuchen sie den Deutsch-Unterricht. Das Angebot haben sie selber im Netz gefunden. Das Zusammenleben mit der Gastfamilie gestaltet sich unkompliziert. Wie es sich ergibt, wird gemeinsam oder getrennt gekocht, gegessen und etwas unternommen. Die Gasteltern fühlen sich in ihrem Alltag nicht eingeschränkt, zumal sie dank ihrem Ferienhaus genügend Distanz finden.

Ein Problem ist für Maria Waser die sprachliche Barriere: «Wir können nur über den Google-Übersetzer kommunizieren, was oft zu Missverständnissen führt. Richtige Diskussionen über die Befindlichkeit und Zukunftspläne der beiden Frauen sind nicht möglich. Ein weiterer Unterschied zu meiner Emigration vor 53 Jahren ist der riesige, äussert unübersichtliche und zeitraubende ‹Administrationsdschungel›. Wie ich von verschiedenen Seiten vernahm, können diese zwei Faktoren in den Gastfamilien zu Konflikten führen.»

Die Kommunikation nur übers Smartphone kann zu Missverständnissen führen.

Ungewisse Zukunft
Im Hinblick auf die Zukunft der beiden geflüchteten Frauen ist vieles ungewiss. Tetjana möchte eine Stelle in ihrem Beruf als Coiffeuse finden. Auf die mit Unterstützung von Maria Waser verfassten Bewerbungsschreiben hat sie allerdings bisher keine einzige Antwort erhalten. Mutter Tamara hofft, möglichst bald in die Heimat zu Sohn, Enkelin und Urenkelin zurückzukehren. Die Aussichten dazu sind gering, bekommen sie doch regelmässig schlechte Nachrichten aus der Ukraine.

«Wir waren wohl alle ein wenig naiv», meint Maria Waser und wehrt sich gegen die Kritik in den Medien über das Vorgehen der Behörden. Vielmehr begrüsst sie es, dass die geflüchteten Menschen zuerst in Lager aufgenommen werden, bis die administrativen Hürden erledigt sind und die Flüchtlinge erst nach sorgfältiger Abklärung den Gasteltern zugewiesen werden. Häufig wurde dort der Aufenthalt auf drei Monate beschränkt. Diese Zeit ist bei der Gastfamilie Waser längst überschritten. Es ist das Ziel aller Beteiligten, dass die geflüchteten Frauen bis im September eine eigene Wohnung finden können.

26. Juli 2022 – monika.fischer@luzern60plus.ch