Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger

Konjunktiv II – über irreale Möglichkeiten

Von Yvonne Volken

Eher kulturpessimistisch, bis an die Grenze zur Misanthropie – so tönen wir gegenwärtig. Unsere klimatische Umgebung verändert sich rasant, Gletscherschmelze, Hitzetage, Regenfluten, Kriege, grosse Fluchtbewegungen – ist die Menschheit noch zu retten? Und wie wäre es gekommen, wenn alles anders gekommen wäre? 

«Wenn du die Welt regieren könntest, was käme zuerst: der Umweltschutz und das Klima retten oder der Weltfrieden und alle Kriege beenden?», fragte die neunjährige Carla kürzlich ihre Grossmutter. Was Regina, Carlas Grossmutter, darauf antwortete, weiss ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch, wie Regina und ich uns betreten und etwas beschämt anschauten, als sie mir das erzählte. Ein schreckliches Desaster und lähmende Ungewissheiten, die wir da der übernächsten Generation weitergeben.

Habe ich meiner Grossmutter auch schon so schicksalshafte Fragen gestellt? Ich verbrachte in den 1960er-Jahren viel Zeit bei den Grosseltern in Lungern. Kriege waren kein Thema. Der 2. Weltkrieg war ja überstanden. Die Schweiz war, so glaubte meine Grossmutter, auch dank der «Hand von Bruder Klaus» (Erscheinung am 13. Mai 1940 in Waldenburg) verschont geblieben. Die Kriege in Indochina und auf dem afrikanischen Kontinent blieben höchstens Randnotizen in der Wahrnehmung meiner Grosseltern und hatten nichts mit dem Alltag zu tun.

Umweltverschmutzung? Klimakrise? Kannte niemand. Und überhaupt: Das Schicksal der Welt lag in Gottes Hand. Dieses Gottvertrauen, das meine Grossmutter und viele ihrer Generation durchs Leben trug, fehlt(e) mir und meiner Generation, die wir im Golden Age Of Capitalism erwachsen geworden sind. Warum hatte Gott die Juden nicht gerettet vor dem Holocaust? Warum liess er die halbe Welt hungern? Und was war mit dem Krieg in Vietnam? Und schliesslich: Warum war ER ein Er? Das waren meine Fragen in späten Kindertagen. Meine Grossmutter war überfordert: «Herrgott nochmal, frag mich nicht!», sagte sie.

Inzwischen haben wir erlebt, wie sich die Kirchen leerten, wie Gott in unserer säkularisierten reichen Welt immer weniger Antworten lieferte (aber ein ER blieb), während wir Menschen blieben, was wir waren, nämlich fürchterliche und geniale, wunderbare und schreckliche, solidarische und überhebliche Wesen, die sich in kurzer Zeit «die Erde untertan» machten und sich nun vor dem eigenen Verschwinden zu fürchten scheinen. Warum ist das so? Wäre der fatale Lauf der Dinge irgendwann veränderbar gewesen?

Svanto Pääbo, Begründer der Palöogenetik, erhielt diesen Herbst den Nobelpreis für Medizin, weil er das Erbgut eines Neandertalers, des europäischen Urmenschen, entschlüsselt hatte. Er fand heraus, dass wir Menschen von heute, die wir alle Kinder des Homo Sapiens sind, einen sehr kleinen Teil – etwa 2 Prozent – des Neandertaler-Genoms in uns tragen. Im Interview wurde ihm die Frage gestellt, warum die «einheimischen» Neandertaler ausgestorben seien bzw. warum sich der Homo Sapiens, der ja das Mittelmeer überwinden musste, um zu «uns» zu gelangen, sich hier und weltweit durchsetzen konnte. Der Homo Sapiens sei wohl schon immer eine sehr neugierige, technisch erfinderische Menschenart gewesen. Er habe offenbar immer seine Grenzen ausloten und möglichst überschreiten wollen, antwortete Pääbo.

Ich war als Kind schon ein Neandertaler-Fan, eine Art Eis- und Steinzeitromantikerin. Fasziniert las ich, wie diese Frühmenschen lebten, wie sie alles, was sie brauchten, in der «Natur» fanden, robust, solidarisch und angepasst an die rauen Lebensverhältnisse. Ich überlegte mir manchmal tatsächlich, wie es gekommen wäre, wenn Gott die Menschheitsentwicklung bei den Neandertalern gestoppt hätte. Hätten sich die genügsamen Neandertaler:innen an Stelle des anpassungsfähigen, intelligenten und effizienten Homo Sapiens ebenfalls zu erfolgreichen Landwirten, Handwerkerinnen, Städtebauern, Weltentdeckerinnen, Kriegsfürsten, Philosophinnen, Gottesanbetern entwickelt? Vielleicht, denn diese europäischen Urmenschen kannten schon eine differenzierte Sprache und entwickelten grobe Werkzeuge und sogar Kunstgegenstände. Vielleicht hätte es einfach viel länger gedauert, bis zum «Kipp-Punkt». Vielleicht wären sie schon längst ausgestorben, weil sie zu wenig anpassungsfähig waren und pro Generation vergleichsweise wenig Nachkommen hatten. Fragen ohne Antworten, aber ein schönes Gedankenspiel im Konjunktiv II – gemäss Duden «Ausdruck des Möglichen oder Irrealen».

Das Schlusswort hat nun Margaret, eine achtjährige Bibelkennerin. Margaret ist die Hauptfigur im Roman «Mädchen auf den Felsen» der englischen Autorin Jane Gardam: «Wenn ich Gott wäre, hätte ich bei den Dinosauriern Schluss gemacht. Ich wäre mit allem zufrieden gewesen.»

22.Oktober 2022 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.