Kolumnist Buschi Luginbühl. Bild: Joseph Schmidiger

Vom Erinnern und Vergessen

Von Buschi Luginbühl

In meiner ersten Kolumne schrieb ich, wie spannend doch «Erinnern» sein kann, auch wenn man vielleicht dafür mal als Ewiggestriger abgestempelt wird. Dass «Erinnern» vor allem auch mit «Vergessen» einhergeht und dies leider nur allzu oft geschieht.

Als ich kürzlich gelesen habe, die Enkelin des grossen Theatermachers Kurt Hirschfeld habe sich zusammen mit ihrer Mutter und dem Filmteam Stina Werenfels und Samir auf die Spurensuche zu ihrem Grossvater gemacht, fühlte ich mich in meinem bescheidenen Unterfangen bestätigt. Übrigens nannten sie ihr Filmprojekt «Der unbekannte Bekannte», also gleich, wie wir unsere szenische Lesung zu Meinrad Inglin überschrieben haben. Der Titel scheint also treffend zu umschreiben, was in unserer schnelllebigen Zeit passiert. Man erinnert sich noch ein bisschen, aber eigentlich hat man vergessen.

Kurt Hirschfeld gehörte zu den prägenden Persönlichkeiten der grossen Ära des Schauspielhauses während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch nach seinem Tod 1964 ging sein Name vergessen. Ob seine jüdische Herkunft in dieser Rezeption eine Rolle spielt? Sicher ist, dass die Rolle der Schweiz während der Nazi-Zeit noch nicht fertig erzählt worden ist.

Noch eine Episode zum Thema «Vergessen». Vor ein paar Tagen stiess ich in der «Luzerner Zeitung» auf eine ausgezeichnete Besprechung zur Ausstellung von Ilse Weber im Kunstmuseum Chur. Ich freute mich, dass die Arbeiten dieser grossartigen Künstlerin endlich wieder in einer Einzelausstellung zu sehen sind. Es ist üblich, dass bei solchen Rezeptionen auf vergangene Ausstellungen und Publikationen verwiesen wird. Und da suchte ich vergebens nach einem Hinweis auf die frühen Einzelausstellungen, 1972 und 1975 in der Luzerner Galerie Raeber, und ebenso, dass der Kunstkritiker Theo Kneubühler 1972 in seiner Standortsbestimmung «Kunst: 28 Schweizer» Ilse Weber als einzige Frau in den Kreis der damals «angesagten Schweizer Kunstszene» aufgenommen hat. Dies soll keine Kritik sein, sondern nur einmal mehr aufzeigen, wie schnell etwas in Vergessenheit geraten und keine Bedeutung mehr haben kann.

Die Galerie Raeber gehörte zu den renommierten Kunstgalerien weit über die Schweizer Grenzen hinaus. In einem Porträt über Beni Raeber, dem Leiter der Galerie, für Luzern60plus, steht: «Von 1964 bis 1979 fanden in der Galerie Raeber gegen 100 Ausstellungen statt, anfänglich auch mit internationalen Namen, später immer mehr auf die schweizerische und regionale Kunstszene bezogen. Weltläufig denken, regional handeln, war mein Motto.»

Diese beiden Artikel habe ich in Hamburg im Internet gefunden. Ich wollte für mich wieder mal eine Luftveränderung und weilte deshalb fast zwei Monate in dieser faszinierenden Stadt. Und da es einen doch hin und wieder interessiert, was sich zu Hause so tut, surfte ich mich halt durch die Website der «Luzerner Zeitung».

Hamburg ist eine Stadt, die viel auf ihr kulturelles Angebot hält. Natürlich pilgert man als erstes zur Elbphilharmonie. Das ist Gegenwart; lebendige Erinnerung ist vielleicht die Laeiszhalle am Brahmsplatz, die «Vorgängerin» der Philharmonie; ein wundersamer Konzertsaal, der aber nach wie vor rege bespielt wird. Wie viele Theater es in Hamburg genau gibt, konnte ich nicht eruieren. Was speziell ist: Es gibt neben den offiziellen Häusern, Schauspielhaus, Thaliatheater und Staatsoper einige grössere Privattheater, die teilweise auch von der Hamburger Kommune unterstützt werden. «Kampnagel» zum Beispiel, eine ehemalige Fabrik – Anfang der 1980er-Jahre für uns der Inbegriff einer Spielstätte für das freie Theater – hat sich zur renommierten internationalen Kulturstätte entwickelt.

Zwei dieser Privattheater möchte ich doch noch speziell erwähnen, nämlich die «Kammerspiele» und das «Ernst Deutsch Theater». Beide gehen auf private Initiativen zurück, und die Erinnerung an die Anfangszeiten werden beispielhaft aufrechterhalten.

1945, gleich nach Kriegsende, eröffnete die Schauspielerin und Regisseurin Ida Ehre Hamburger die «Kammerspiele» in einem Theatergebäude, das bis zu seiner «Zwangs-Arisierung» 1941 vom jüdischen Kulturbund genutzt worden war. Die Kammerspiele entwickelten sich unter ihrer Leitung schnell zu einer der führenden deutschsprachigen Schauspielbühnen. Und noch heute sind die Gründerin und ihre Wegbegleiterinnen und -begleiter im Theater omnipräsent. Zudem gibt es eine Schule, die ihren Namen trägt.

Das «Ernst Deutsch Theater» wurde 1951 von Friedrich Schütter und Wolfgang Borchert als «Das Junge Theater» gegründet. (Wolfgang Borchert ist nicht identisch mit dem Autor des Dramas «Draussen vor der Tür», das in den «Kammerspielen» uraufgeführt wurde). Friedrich Schütter war Theater- und Filmschauspieler, der vor allem auch als Synchronsprecher bekannt wurde. 1973, in Verehrung für den grossen Mimen, benannte er zu dessen viertem Todestag seine Bühne in «Ernst Deutsch Theater» um. Ernst Deutsch habe kurz vor seinem Tod in diesem Hamburger Privattheater in seiner Paraderolle als Nathan der Weise einen prägenden und beim Publikum unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Ich kann mir dies lebhaft vorstellen, denn ich durfte ihn noch selbst auf der Bühne des Schauspielhauses als Nathan erleben.

Bin ich wieder ins Sinnieren gekommen …? Hamburg gäbe mehr als eine Kolumne, vielleicht ein andermal.

Eine Episode in Sachen Erinnerungen möchte ich hier zum Abschluss doch noch erzählen. Nach der Vorstellung im «Ernst Deutsch Theater» geht man über die Strasse ins «Flickenschildt». Genau! Dieses Lokal ist der grossartigen Elisabeth Flickenschildt gewidmet. Im Schaufenster steht das Plakat einer Aufführung von Julius Hays Skandalstück «Haben» mit Flickenschildt in der Hauptrolle. Regie führte Richard Münch, mitgespielt haben unter anderem Ella Büchi und Hans Putz. Mit diesen dreien durfte ich später als Hörspielregisseur zusammenarbeiten.

24. Februar 2023 – buschi.luginbühl@luzern60plus.ch

Zur Person
Buschi Luginbühl, Jahrgang 1942, ist in Kriens geboren und aufgewachsen. Nach der Weiterbildung als Architekt tätig. 1978 beruflicher Neubeginn. Zweijährige Stage bei Schweizer Radio DRS, dann freischaffender Regisseur für Hörspiel und Satire. Schauspielausbildung, Engagements im In- und Ausland. 30 Jahre zusammen mit Franziska Kohlund Leiter der freien Theatertruppe «Il Soggetto» (u.a. mit Margrit Winter, Erwin Kohlund und Peter Brogle). Arbeitet bis heute als Regisseur und Bühnenbildner im In- und Ausland. Diverse Publikationen zum Thema Theater. Er lebt in Luzern.