
Mentalitätsunterschiede sind nicht aus der Welt zu schaffen. Freundschaft ist trotzdem möglich. Bild: «active&live»
Ziemlich beste Nachbarn
Sie sind uns am nächsten, geografisch jedenfalls: Deutsche, Österreicher, Franzosen, Italiener – Europäer überhaupt. Wie sehen wir uns gegenseitig? Eine Annäherung.
Von Eva Holz
«Nie würde ich mit einem Stadtplan in der Hand durch Rom spazieren», gestand mir jüngst eine Bekannte. Sie finde es schöner, dort als Einheimische rüberzukommen. Nun ja, geben wir uns im Ausland gerne als schwiizerdütsche Bergler zu erkennen? Eher nein, lieber kramen wir in Paris übereifrig unser verblichenes Französisch hervor, drehen in Italien das Temperament auf Hochtouren und versuchen uns in Deutschland – meist vergeblich – in gepflegtem Deutsch.
Man möchte doch irgendwie mithalten mit den Grösseren, Gewandteren, Lustigeren. Oder ist das alles nur höfliche Anpassung? Sicher ist: Was uns an den anderen gefällt, kriegen wir nicht ohne Weiteres hin. Was wir umgekehrt von den anderen – den Zugezogenen – fordern, liefern diese nicht in jedem Fall. Wie also kommt und bleibt man am ehesten in Kontakt?
Wer Anschluss sucht, muss aktiv werden
Clare O’Dea, ursprünglich aus Irland, lebt seit 20 Jahren in der Schweiz und kennt sich in der Thematik aus. In einem Interview mit dem «Tagesanzeiger» benennt sie Hindernisse und Chancen. «Wer die Landessprache nicht spricht, bleibt aussen vor. Besonders bei den englischsprachigen Expats ist das eine Falle. Weil viele Schweizer gut Englisch sprechen, lernen Zuzügler in der Regel nicht genügend Deutsch oder Französisch.» Und: «Das Sozialleben in der Schweiz spielt sich – so meine Erfahrung – vorwiegend in Vereinen oder der Nachbarschaft ab, in Sportclubs, Musikgruppen oder ehrenamtlichen Projekten.» Wer wirklich Anschluss suche, müsse aktiv werden.
Dass man dafür empfänglich ist, bestätigt ein Bekannter: «Wir haben deutsche Freunde, die sich sehr für uns, für das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben in der Schweiz interessieren, daran teilnehmen und gut integriert sind. Andere Expats in der Nachbarschaft scheinen keinen grossen Wert auf Kontakt mit uns zu legen. Jedenfalls vermissen wir zuweilen einen Gegengruss.»
Ein anderer Schweizer gibt zu: «Manchmal wünscht man sich für sich selber mehr von der Frische, Unbekümmertheit und der druckreifen Rhetorik, mit der Zugezogene die Diskussionen beleben.»
Freundlichkeit: Schweiz auf Platz 20 in den Top 20
Laut einer Analyse von «Präsenz Schweiz» des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) assoziiert die breite Bevölkerung im Ausland mit der Schweiz Wohlstand und hohe Lebensqualität. Gleichzeitig werden die Schweizer nicht als überragend freundlich und weltoffen charakterisiert. «Tatsächlich haben wir es knapp noch in die Top 20 der freundlichsten Länder geschafft – auf Platz 20. Ganze zwölf Plätze trennen damit die Schweizer von den deutschen Nachbarn, die auf dem achten Rang stehen», steht im Bericht von 2024.
Tim Guldimann, ehemaliger Schweizer Botschafter in Berlin, fasst den Mentalitätsunterschied im «Tagesanzeiger» so zusammen: «Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland, bin mittlerweile Doppelbürger und habe Schweizer Qualitäten noch mehr schätzen gelernt. Wir sind nicht so hierarchisch gestrickt, duzen schneller, vermeiden die Konfrontation und denken immer schon an den Kompromiss. Wenn es ein Problem gibt, fragen wir uns ‹Was ist die Lösung?›, die Deutschen hingegen ‹Was ist die Vorschrift?› oder noch schlimmer, sie behaupten einfach ‹Ich bin nicht zuständig›.» Schmunzelnd nimmt man seine Schilderung zur Kenntnis: «Meine Frau ist Deutsche und manchmal sage ich ihr, sei doch nicht so aggressiv. Dann sagt sie, sie sei nicht aggressiv, sie sage nur, was Sache sei. Darauf ich: eben!»
Nur was lange währt …
«Irgendwo zwischen Süd und Nord eingeklemmt: die verklemmten und etwas verhaltenen Helvetier? Alles nur alberne, nicht ernst zu nehmende Vorurteile oder ist da vielleicht etwas Wahres dran?» fragt Essayistin und Literaturwissenschaftlerin Kaltërina Latifi in einer Kolumne im «Tagesanzeiger-Magazin». «Dass es sowohl schüchterne wie gesellige und kontaktfreudige Schweizer gibt, bedarf keiner weiteren Ausführung. Gemeint ist ein soziokulturelles Verhaltensmuster, Verhaltenheit als Charakteristikum der nationalen Identität.»
Diskretheit und Vorsicht bedeuten laut Latifi aber nicht unbedingt, dass Freundschaft unmöglich ist. Im Gegenteil: «Ich möchte behaupten: Sie sind eine gute Voraussetzung für eine solide Gemeinschaftsbildung.» Umgekehrt würden nämlich überschwängliche Aufgeschlossenheit, einnehmendes Auftreten, sofortiges Liebhaben und Zu-sich-Einladen keine authentische Empathie garantieren. So beruhigt denn Latifis Schlusswort: «Nur was lange währt, wird verlässlich und gut. Und das mag ich an der Schweiz.»
Teil 2: «In der Schweiz ist man toleranter»
Teil 3: «Unverkennbar: Der Outdoor-Survival-Look»
12. August 2025 – eva.holz@luzern60plus.ch
Dieser Text ist zuerst im Magazin «active&live» erschienen.