Zur guten Betreuung gehören Gespräche und emotionale Unterstützung.

Ungleichheit im Alter (2)

Gute Betreuung ist im Alter nicht garantiert

Die Kosten für Pflege und Betreuung gehen ins Geld. Die Mittelschicht trägt einen Grossteil der Kosten selber, sodass das Vermögen schnell verzehrt ist. Nicht alle können sich deshalb eine gute Betreuung leisten. Dies zeigt die Analyse über «finanzielle Spielräume älterer Menschen in der Schweiz» von Nora Meuli und Carlo Knöpfel.

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Herr Karlen ist seit längerem im Ruhestand und lebt allein in einer Mietwohnung. Seine Kräfte haben etwas nachgelassen, er ist fragiler geworden. Er sieht und hört nicht mehr so gut wie früher, kann aber den grössten Teil seines Alltags selber bewältigen. Die Spitex unterstützt ihn beim Einkaufen, bei Arztbesuchen, beim Kochen, im Haushalt, bei den Finanzen oder bei der Körperpflege. Wenn Herr Karlen in der Stadt Luzern wohnen würde, hätte er der Spitex für Betreuungs- und Pflegekosten jährlich 14'100 Franken zu zahlen. Denn für die Betreuung, ob mit Spitex oder im Pflegeheimen, müssen die älteren Menschen weitgehend selber aufkommen. Herr Karlen ist ein fiktives Beispiel, das Nora Meuli und Carlo Knöpfel aufgrund ihrer Analysen in ihrem Buch zur «Ungleichheit im Alter»* anführen. Die Tarife und Kostenbeteiligungen sind in der Schweiz allerdings je nach Kanton höchst unterschiedlich geregelt.  

Gute Betreuung hilft gegen Einsamkeit
Während viele Alleinstehende wie Herr Karlen auf professionelle Unterstützung angewiesen sind, können andere auf ein persönliches soziales Netz zurückgreifen. So leisten Familienangehörige, Nachbarn und Freundinnen jährlich tausende unbezahlte Stunden an Care-Arbeit, deren Wert das Bundesamt für Statistik auf 3,7 Milliarden Franken schätzt. Ohne diese freiwillige Unterstützung «wäre der Alltag für die meisten fragilen älteren Personen in der Schweiz kaum zu bewältigen», bilanzieren Meuli und Knöpfel. Aber die unbezahlte Care-Arbeit stösst an ihre Grenzen. Schon heute sind 620'000 Menschen über 65 Jahre auf Betreuung angewiesen, und die Zahl der Personen, die künftig neben der medizinischen Pflege eine psychosoziale Betreuung brauchen, wird deutlich zunehmen. Laut Bundesamt für Statistik wird sich der Anteil der Generation 80plus an der Schweizer Wohnbevölkerung bis im Jahr 2030 von 5,4 auf 7 Prozent erhöhen, bis im Jahr 2050 sogar auf über 10 Prozent.

Während die Pflegeleistungen über die Krankenkasse finanziell weitgehend geregelt und notfalls mit Ergänzungsleistungen beglichen werden, ist gute Betreuung im Alter keineswegs garantiert. «Unklar ist, wer die Betreuung übernimmt, wenn die ältere Person isoliert lebt und über keine starken sozialen Bindungen verfügt», konstatieren Meuli und Knöpfel. Zum einen kennen sich fragile Menschen oft mit den vielen Anbietern nicht aus, zum anderen können sie sich «ein umfassendes Betreuungssetting» gar nicht leisten. Zur guten Betreuung gehören nicht nur Aufgaben, die den Alltag und das Wohlbefinden der älteren Personen erleichtern, wie Einkaufen, Kochen, Putzen oder Begleitung bei Arzt- und Coiffeurbesuchen. «Ebenso wichtig sind Gespräche oder emotionale Unterstützung durch Ratschläge, Anteilname und Trost, weil auch Einsamkeit und Antriebslosigkeit mit der Fragilisierung einher gehen.»


Frau Meier zahlt einen Grossteil der Pflegeheimkosten

Frau Meier kann nicht mehr selbstständig zu Hause leben. Sie droht ständig zu stürzen und ist auf Hilfe angewiesen. Sie gehört wie Herr Karlen zur Mittelschicht, mit einem jährlichen Einkommen von 40'100 Franken und einem Vermögen von 171'100 Franken (fiktives Beispiel). In der Stadt Luzern würden sich ihre Pflegeheimkosten auf jährlich über 73'000 Franken belaufen, davon müsste sie den Grossteil (91 Prozent) selber aufbringen. Das Vermögen wäre also innert Kürze aufgebraucht. Während die Krankenkassen die Pflegekosten weitgehend übernehmen, werden die Betreuungs- und Hotelleriekosten mehrheitlich auf die Bewohnerinnen und Bewohnern abgewälzt. Wenn die Rente nicht ausreicht, müssen sie von ihrem Vermögen zehren oder Ergänzungsleistungen beantragen.


Das «Entsparen im Alter»
Wenn die Kräfte im fragilen Alter nachlassen, steigen die Ausgaben für die Gesundheit. Aufenthalte im Spital, Checks beim Hausarzt oder beim Spezialisten, Spitex, Haushalthilfe, Mahlzeitendienst: Das alles kostet und bedeutet für viele, «dass sie in ihrem Alltag kürzertreten müssen, wenn sie nicht auf ihr Vermögen zurückgreifen können», wie Meuli und Knöpfel schreiben. Um auf Herr Karlen zurückzukommen: Nach Abzug von Steuern, Miete, Spitex und Krankenkasse verbleibt ihm ein frei verfügbares Jahreseinkommen von bescheidenen 2200 Franken (berechnet für das Jahr 2018). Mit Ergänzungsleistungen kann er aufgrund seines Einkommens und Vermögens nicht rechnen. Er wird zuerst den grössten Teil des Vermögens für den Lebensunterhalt aufbringen müssen. Das bedeutet für ihn, «dass sich sein höheres Einkommen im Alter nicht wirklich auszahlt».

Vor allem bei einem längeren Aufenthalt im Pflegeheim ist das «Entsparen im Alter» an der Tagesordnung. Wenn Frau Meier in sehr schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebte und mit Ergänzungsleistungen rechnen könnte, würde sie das Pflegeheim 16'400 Franken kosten, wie Meuli und Knöpfel vorrechnen. In einer guten oder sehr guten finanziellen Situation würden für sie hingegen Kosten von jährlich 63'800 Franken anfallen. Das Fazit zur Studie über die Ungleichheit im Alter: Einkommen und Vermögen der Haushalte mit mittleren finanziellen Verhältnissen sind zu hoch, um Ergänzungleistungen und Beihilfen zu beziehen. Gleichzeitig ist das Einkommen aber nicht hoch genug, um ein frei verfügbares Einkommen zu erzielen, das jenes der EL-Beziehenden übersteigen würde. Die Mittelschicht sei somit nicht besser gestellt, als wenn sie Ergänzungsleistungen beziehen würde. «Für sie hat sich weder die höhere Altersvorsorge noch das angesparte Vermögen gelohnt.»

Für den Mittelstand stellt sich deshalb zunehmend die Frage, ob er sich eine gute Betreuung im fragilen Alter überhaupt leisten kann. «Da Betreuung heute in den Gesundheits- und Sozialsystemen nur am Rande mitgedacht ist, bezahlen die Seniorinnen und Senioren die Betreuungsleistungen zu einem guten Teil aus dem eigenen Portemonnaie», heisst es in einer Studie der Paul Schiller Stiftung zu Kosten und Finanzierung einer guten Betreuung im Alter. «Oder sie verzichten darauf, obwohl Betreuung nötig wäre und präventiv einen wichtigen Beitrag für ein gesundes Altern leisten könnte.» Könnte ein staatliches Betreuungsgeld die Lösung sein?

15. Februar 2022 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch

In der nächsten Folge: Droht im Alter eine Zweiklassengesellschaft?

Bereits erschienen, Folge 1: Wer arm ist, zahlt über 40 Prozent fürs Wohnen

*Nora Meuli und Carlo Knöpfel: Ungleichheit im Alter. Eine Analyse der finanziellen Spielräume älterer Menschen in der Schweiz. 220 Seiten, mit zahlreichen Grafiken, 43 Franken. Seismo Verlag Zürich, 2021.

Die Paul Schiller Stiftung setzt sich für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz ein.