Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Über verräterische kleine Wörtchen

Von Helen Christen

«Willst du noch grössere Reisen machen?», «Möchtest du noch ein Instrument lernen?», «Willst du noch was ganz Neues anfangen?». Das Problem, das sich mir als Neo-Rentnerin bei diesen und ähnlichen Fragen stellt, liegt nicht in der Antwort (2 x nein, 1 x vielleicht), sondern in der Heimtücke, die hinter dem Wörtchen «noch» lauert. Dieses «Noch» macht unmissverständlich klar, dass meine Rest-Lebenszeit knapp bemessen und Eile geboten ist. Was ich zu erleben, zu erlernen, anzupacken wünsche, steht offenbar im aussichtslosen Wettrennen gegen die Sanduhr, die nicht nur unablässig, sondern immer unerbittlicher rieselt oder wie es der bayerische Schriftsteller Herbert Achternbusch auf den Punkt gebracht hat: «Du hast keine Chance, aber nutze sie!» In wenigen Jahren wird es wohl nicht beim «Noch» der Sanduhr bleiben. Ich muss mich auf Formulierungen von der Art gefasst machen, wie man ihnen zuhauf in Glückwünschen für Hochbetagte begegnet: «Sie macht noch jeden Tag einen Spaziergang», «Sie liest noch regelmässig die Zeitung», «Sie fährt noch Auto». Mit diesem «Noch» des bewundernden Erstaunens kommt zum Ausdruck, dass jemand – wider Erwarten – in der Lage ist, zu spazieren, Zeitung zu lesen oder Auto zu fahren.

Dies lässt unweigerlich die Frage aufkommen, von welcher Warte aus diese Einschätzungen denn getroffen werden, vor welchem Horizont die mitgedachten Erwartungen denn entstanden sind. Offensichtlich ist es MAN – für einmal aber nicht im üblichen sozialwissenschaftlichen Sinne als Abkürzung für «male as norm», sondern für «middle-aged as norm». Die Menschen in der statistischen Lebensmitte geben den Referenzpunkt ab, von dem aus der knapper werdende Vorrat an Zukunft und zunehmender körperlicher und geistiger Abbau veranschlagt wird. Nein, mehr als das: Dass die beiden «Nochs» nicht für Menschen mittleren Alters verwendet werden, nicht verwendet werden können, gaukelt vor, dass diese Altersgruppe nicht unter dem Damoklesschwert von Zeitlichkeit und Versehrtheit stünde.

Dass die MAN-Menschen das unverrückbare Mass der Dinge abgeben, zeigt sich bei einem zweiten Wörtchen, das umgekehrt gerade für Jüngste und Junge zum Zuge kommt und nicht minder verräterisch ist: «Er kann schon ganz alleine sitzen», «Er kennt schon zehn Buchstaben». Dieses Anerkennungs-«Schon» ist zwar wohlwollend: Jemand erfüllt die Erwartungen, sogar zeitlich etwas früher als eigentlich vorgesehen. Die «Schons» markieren die erreichten Etappenziele hin zum MAN-Menschen, der dann fraglos zum Beispiel alle Buchstaben kennt, der nebst sitzen auch stehen, gehen, rennen und Auto fahren kann. Das MAN-Dasein als erstrebenswerter Kulminationspunkt also, an dem – für kurze Zeit – die Fragen des Ungenügens ausgesetzt scheinen. Vorher gilt: Gut, wenn man schon vieles kann, was den MAN-Menschen ausmacht. Nachher gilt: Gut, wenn man noch vieles kann, was den MAN-Menschen ausmacht.

Allerdings: In «Noch»- und «Schon»-Formulierungen sind die Erwartungen schonungslos benannt, die Frau und Mann in ihrer Lebensmitte zu erfüllen haben. Wen wunderts also, dass sich dieses so fordernde Lebensalter gerade als besonders krisenanfällig – Midlife crisis! – erweist. Lässt es sich da nicht viel unbeschwerter mit einem «Noch» leben, auf das man ohne jeglichen Gesichtsverlust mit einem nicht weiter erklärungsbedürftigen Nein reagieren darf? Oder zumindest dürfte...

21. April 2022 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.