Von der alltäglichen Verbal-Kosmetik

Von Meinrad Buholzer

Seit dem Fahrplanwechsel gibt es bei den SBB keine Stellwerkstörungen mehr. Nicht, dass das Problem aus der Welt geschafft ist und entsprechende Verspätungen der Vergangenheit angehören. Es handelt sich nur um verbales Flickwerk. Laut offizieller Sprachregelung heisst das Übel nun „technische Störung an der Bahnanlage".

Diese Verbal-Kosmetik ist kein Einzelfall. Seit wir nicht mehr miteinander reden, sondern kommunizieren, und seit man das „Verlautbarungswesen" professionalisiert und an Fachleute delegiert hat, ersäuft man uns, erstens, mit Mitteilungen aller Art und verfremdet den Inhalt, zweitens, bis ins Gegenteil. Man sagt uns nicht mehr die Wahrheit, sondern speist uns mit Konfekt ab: verbale Legosteine, die scheinbar Erklärungen liefern, indem sie nichts sagen. Vor allem sollen negative Gefühle vermieden werden (bei „Stellwerkstörungen" hätten sich jeweils die Nackenhaare der Kunden gesträubt, so die SBB). Valium also.

"Ihr Karma liebt Sie"
Und so lesen wir an Plakatwänden, wie pünktlich dieses, wie zuverlässig jenes Unternehmen ist, wie sehr jenem Institut unser Wohlergehen, unsere Sicherheit und dieser Partei unsere Zukunft ein Anliegen ist. Gelegentlich stellen sie uns ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor, für die wir nicht anonyme Klienten sind, sondern Menschen, auf die sie sich ungemein freuen. Bis wir etwas von ihnen wollen und in einer Warteschlaufe kalt gestellt werden...

Neuerdings „sprechen" uns auch ganz banale Nahrungsmittel persönlich an. Auf einem Convenience-Produkt mit dem Namen Karma heisst es: „Ihr Karma liebt Sie. Und Sie werden Karma lieben: weltoffen und natürlich vegetarisch." Auf einer Sauerkrautpackung kann man lesen, dass viele Bauern das Produkt schon seit Generationen nach strengen ökologischen Richtlinien anpflanzen (wer sie ihnen wohl verordnet hat, vor Generationen?). Im Herbst werde der Chabis „mit viel Handarbeit liebevoll geerntet", von erfahrenen Mitarbeitern, "seit vielen Jahren im Dienste des Sauerkrautes".

Sprachmanipulation
Wer noch Bücher liest, erinnert sich vielleicht an George Orwells 1984. Der Autor schildert ein totalitäres Regime, dessen Kontrolle nichts entgeht. Zu den wirksamsten Massnahmen gehört die Sprachmanipulation. Subjektives Empfinden soll durch objektive Begriffe ausgemerzt werden. Bad  (schlecht) heisst nun ungood (ungut), mit der Steigerung plusungood. Das Kriegsministerium heisst Ministerium für Liebe, das Propagandaministerium ist das Wahrheitsministerium. Hinter Newspeak mit dem drastisch reduzierten und manipulierten Vokabular steht unter anderem die Idee, dass das Volk gar nicht mehr an eine Rebellion denken kann, weil das Wort dazu fehlt.

Es steht mir fern, unsere Situation mit jener in 1984 gleichzusetzen. Dort geht es kriegerisch zu, die Manipulation ist unverblümt, die Überwachung total, die Durchsetzung brutal. Wer uns verführen will, muss subtilere Methoden kennen – wir wollen uns in der schönen neuen Welt, wenn man uns aufs Kreuz legt, wenigstens wohl fühlen. Ich sehe auch keinen Bösewicht, der uns eine Tyrannei aufzwingen will. Die grössere Versuchung ist, dass wir uns selbst ruhig stellen, eingelullt von omnipräsenter Wellness.

Vielleicht aber sollten wir hie und da einen Gedanken daran verschwenden, wohin es führen kann, wenn Sprache sich von der Realität abkoppelt, die Bodenhaftung verliert und uns allmählich in ein virtuelles Paralleluniversum versetzt.
19.1.2016

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.