Der Stellenwert der Patientenverfügung

Ab 1. Januar 2013 erhält eine Patientenverfügung Rechtskraft. Das ist im ZGB, respektive im neuen Erwachsenenschutzrecht so geregelt. In der Praxis bedeutet dies eine Umkehr des Rechts. Der Patient oder dessen Angehörige entscheiden über medizinische Massnahmen, nicht mehr allein der Arzt oder die Ärztin. Diese Veränderung hat grosse Auswirkungen auf die medizinischen Institutionen. (Siehe auch Beitrag „Der Patientenwille wird verbindlich“)

In vielen Akutspitälern und in der Langzeitpflege ist die Sensibilität für das Thema Patientenverfügung gewachsen. Recherchen in den medizinischen und pflegerischen Institutionen in Luzern zeigen jedoch, dass die Praxis noch  unterschiedlich ist. Es geschieht längst nicht überall, dass Spital- und Heimärzte, Ärztinnen oder das Pflegepersonal nach der Patientenverfügung fragen und wissen wollen, was sie beinhaltet.

Akutspitäler: Im Patientenreglement vorgesehen
In §35 des Patientenreglements des Luzerner Kantonsspitals heisst es: „Jede vom urteilsfähigen Patienten oder der urteilsfähigen Patientin im Voraus mündlich oder schriftlich verfasste Verfügung betreffend Behandlung und Betreuung ist verbindlich.“ Das ist die rechtliche Grundlage. Daneben gibt es auf Oktober 2012 eine Neuauflage der Patientenbroschüre, für die ein Input des Ethik-Forums des Kantonsspitals besteht. Darin wird auf die Patientenverfügung als Willensäusserung verwiesen und festgehalten, dass das Behandlungsteam diesen Willen zu respektieren habe. Weiter heisst es: „Sorgen Sie dafür, dass das Spitalpersonal bei Spitaleintritt von Ihrer Verfügung Kenntnis hat.“ In der Broschüre wird auch ausgeführt, dass das Behandlungsteam wissen müsse, welche Person im Falle einer Entscheidungsunfähigkeit des Patienten oder der Patientin die Stellvertretung übernehme.

Zudem hat das Ethik-Forum am 18. Februar 2012 „Richtlinien für den Umgang mit der Patientenverfügung  am LUKS“ festgesetzt, die von der Spitaldirektion genehmigt worden sind. Darin wird festgehalten, dass „Willensäusserungen (der urteilsfähigen Patienten) mit der zuständigen Ärztin/Arzt und deren Umsetzung im Behandlungsteam besprochen werden“. Bei urteilsunfähigen Patienten ist der zuständige Arzt bei Spitaleintritt verpflichtet, nach dem Vorhandensein einer Patientenverfügung zu fragen. Die relevanten Aspekte für die Behandlungsentscheide würden mit den Angehörigen thematisiert und gemäss dem antizipierten Willen der Patienten oder des Patienten umgesetzt. Weiter wird festgehalten, dass bestehende Patientenverfügungen als Kopie in die Krankengeschichte gehörten. Wenn die Überprüfung und die Gespräche ergeben, dass der Inhalt einer Patientenverfügung nicht mehr aktuell ist und auch nicht auf die aktuelle Krankheit sinngemäss angewendet werden kann,  muss eine Neubeurteilung des „mutmasslichen Willens“ stattfinden!

Gregor Schubiger, Co-Leiter im Ethik-Forum des Kantonsspitals und Präsident der kantonalen Ethikkommission, früher Chefarzt Kinderspital, hat die Ausarbeitung von Broschüren und Richtlinien in die Wege geleitetet und ist jetzt wesentlich mit deren Kommunikation beschäftigt. Auf die Frage, ob der Umstand der rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ab Januar 2013 der Ärzteschaft am Spital kommuniziert worden sei, sagt Schubiger, diese Aufgabe werde jetzt in die Wege geleitet.

Die Hirslanden-Klinik St. Anna verfügt über ein Palliativmedizin-Konzept. Für Direktor Dominik Utiger ist es selbstverständlich, dass das geltende Recht umgesetzt und damit der Inhalt einer Patientenverfügung ernst genommen werde. „In der Umsetzung allerdings sind wir in der Klinik noch nicht soweit“, sagt er auf Anfrage. Ärzteschaft und Pflegepersonal müssten noch entsprechend geschult werden. Schon heute allerdings, werde beim Klinikeintritt  nach einer Patientenverfügung gefragt. „Das Rollenverständnis zwischen Arzt, Pflegepersonal und Patient hat sich spürbar verschoben. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die nicht nur vom Gesetz her bestimmt wird. Viele Patienten und Patientinnen  sagen sehr deutlich, was sie wünschen“, sagt Dominik Utiger.

In der Langzeitpflege sind die Heime zuständig
Beat Demarmels, Leiter der Abteilung Heime und Alterssiedlungen der Stadt Luzern, verweist auf die Personal-Weiterbildung im Bereich Palliativ Care, die in Zusammenarbeit mit Caritas und Curaviva durchgeführt werde. Eines der angebotenen Module befasse sich mit dem Thema Patientenverfügung. Die Umsetzung dieser Module bleibe jedoch den Heimen überlassen. Für die in den Pflegeheimen tätige Ärzteschaft sei keine spezielle Information vorgesehen. Die Heimärzte würden im Umfeld der Weiterbildung auf ihre neue Pflicht hinsichtlich Umsetzung von Patientenverfügungen aufmerksam gemacht. Diese Aufgabe ist  nicht zu unterschätzen, da neben den Heimärzten in den Wohnheimen auch private Ärztinnen und Ärzte zu den Bewohnerinnen kommen. Im allen städtischen Betagtenzentren ist es üblich, dass die künftigen BewohnerInnen beim Heimeintritt auf die Patientenverfügung hingewiesen würden. Wer die PV ausfüllen will, erhält beratende Unterstützung.

In der Schweizerischen Fachzeitschrift der Spitexbranche „Schauplatz Spitex“ nimmt der Jurist Marco Zingaro, Dozent an der Berner Fachhochschule, zum neuen Erwachsenenschutzrecht Stellung. Er sagt zum Beispiel, dass die Patientenverfügung  ab 1. Januar 2013 eine einheitliche Verbindlichkeit bekomme. „Sobald eine Patientenverfügung zur Anwendung kommt, hat die Ärztin oder der Arzt gemäss dieser Verfügung zu handeln.“ Auf die Frage, ob Spitexmitarbeitende  die Kundinnen und Kunden auf die Möglichkeit der Patientenverfügung aufmerksam machen sollen, meint Zingaro, das sei wohl nicht die primäre Aufgabe,  aber wenn die Frage auftauche sei es wohl gut, Bescheid zu wissen und der betreffenden Person zu sagen, dass sie jederzeit ihren Willen und ihre Wünsche zu Papier bringen könne.

Wie viel Information und Überzeugungsarbeit in den Gesundheitsberufen und vor allem bei der Ärzteschaft noch zu leisten sein wird, zeigte die Einladung zu einer Tagung im Universitätsspital Zürich im vergangenen September unter dem Titel „Autonomieverständnis und das neue Erwachsenenschutzrecht“. In der Einleitung wird auf das neue Selbstbestimmungsrecht der Patienten aufmerksam gemacht. Das werfe Fragen auf, heisst es. Und weiter: „Droht mit dem neuen Recht eine Bevormundung der Ärzteschaft? Können Vertretungspersonen medizinische Massnahmen und Therapien genügend beurteilen?“ Die Skepsis ist augenfällig und zeigt auch, wie wenig bisher in Ärztekreisen über dieses Thema informiert und gesprochen worden ist. Der Mediziner Beat Knecht, Präsident des mitorganisierenden Fördervereins „Dialog Ethik“, ist überzeugt, dass die Tagung aus positivem Interesse an der Sache in die Wege geleitet worden sei.

Patientenverfügung ist verbindliche Willensäusserung
Der eher zögerlichen Praxis der Ärzteschaft bei der Beachtung von Verfügungen in den gesundheitlichen Institutionen steht das eigentlich unbestrittene Recht des Patienten auf Selbstbestimmung gegenüber. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat ihre Richtlinien zum Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten aus dem Jahre 2005 überarbeitet und bezeichnet darin die Patientenverfügung als erstes Surrogat (Ersatz-Willenserklärung) bei urteilsunfähigen Patienten, die entsprechend beachtet werden müsse.

Andreas Imhasly ist Theologe und wirkte von 1991 bis 2010 als Klinik-Seelsorger im Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Er halte das Instrument der Patientenverfügung für sehr wichtig, sagt er in einem Interview, weil das Papier dem einzelnen Menschen die Möglichkeit gebe, sich mit den Fragen der letzten Lebensphase auseinanderzusetzen und sie mit Angehörigen zu besprechen. In der Klink werde die Frage für die meisten erst dann aktuell, wenn beim Eintritt nach der Patientenverfügung gefragt werde. Dieser Anstoss sei aber wichtig.
René Regenass – 6. September 2012