Kompetent den Alltag bewältigen

Von Marietherese Schwegler

„Was kann man noch im Alter? Und was kann man sogar besonders gut im Alter?" Mit diesen Fragen leitete Hans Rudolf Schilling, Geschäftsführer des Zentrums für Gerontologie (ZfG) der Universität Zürich, den 15. Gerontologietag ein. Er warf eine Grafik an die Wand, die eine beeindruckende Vielfalt von Erfahrungswissen und -können, von persönlich-sozialen, physischen, psychischen und kognitiven Ressourcen zeigt, über welche viele Menschen auch im Alter noch verfügen. Und mit denen sie den Alltag erfolgreich bewältigen, wenngleich sie selber sich dieser Kompetenzen oft gar nicht bewusst sind.

„Es sitzt"
Was damit gemeint sein kann, zeigte Mareile Flitsch in ihrem Input auf. Die auf China spezialisierte Ethnologin erforscht Alltagskompetenz, so genannte Skills, in allen Kulturen. Dazu zählt sie Wissen (Fertigkeiten erlernen), Könnerschaft (Fertigkeiten ausüben) und schliesslich die höchste Stufe, Wissen und Könnerschaft weitergeben beziehungsweise Lehren. „Im Alter", sagte sie, „hat die Verkörperlichung von Alltagskompetenzen ihren Zenit erreicht." Zur Illustration von Könnerschaft machte sie ein Beispiel: Die alte Frau braucht beim Kuchenbacken kein Rezept, sie mischt Mehl, Butter und Zucker aus dem Handgelenk genau richtig. Kurz: „Es sitzt." Mit grosser Selbstverständlichkeit und ohne dass man darüber sprechen muss, gewissermassen automatisiert, werden im Alter zahlreiche Fertigkeiten einfach ausgeübt; sie bleiben dank ständiger Praxis erhalten. Eine besondere Art von Könnerschaft alter Menschen in China führte Mareile Flitsch in einem Video (Link am Textende) vor. Es zeigt, dass auch körperliche Könnerschaft im Alter einfach sitzt.

Alltag als Testgelände der Forschung
Der Forschungsschwerpunkt „Dynamik gesunden Alterns" der Uni Zürich befasst sich – wie der Titel sagt – nicht mit Defiziten, sondern fragt danach, wie die Lebensqualität und Gesundheit im Alter erhalten bleiben. Darüber berichtete der Professor für Gerontopsychologie, Mike Martin. „Das Testgelände unserer Forschung ist nicht das Labor, sondern der Alltag von älteren Personen", sagte er und meinte damit, dass dieses Projekt nahe an und mit älteren Menschen verläuft. Eine zentrale Frage dabei lautet: Unter welchen Umständen gedeiht eine stabile Lebensqualität, die bis ins Alter hält? Wie das Altern sind auch Gesundheit oder Lebensqualität Prozesse, die in einem komplexen Zusammenspiel von Fähigkeiten und Verhalten in jedem Individuum verschieden ablaufen, die zum Teil herstellbar sind und die sich verändern. Alle Menschen haben bestimmte Fähigkeiten. Doch was sie damit anstellen – kunstvoll Flechten, Forschen, Vorträge halten? – das sei individuell, führte Mike Martin aus. „Uns interessiert, wie bei einer Person ihre Fähigkeiten zusammenwirken und wie sie dann auch auf einen anderen Gegenstand angewendet werden. Wenn das gelingt, dann lässt sich Unvorhersehbares bewältigen, dann bringen Erfahrungen Vorteile bis ins Alter."

Ein Kurzreferat von Ruedi Winkler, Personal- und Organisationsentwicklung, galt den älteren Arbeitnehmenden, die bei der Stellensuche schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Winkler stellte die Frage, warum denn – beim beklagten Fachkräftemangel – nicht alle Kompetenzen, die in der Schweiz vorhanden sind genutzt würden. „Die Wirtschaft muss weniger auf den Jahrgang und mehr auf die Kompetenzen schauen", sagte er und wies auf den Widerspruch hin, dass man dann von den Pensionierten plötzlich fordere, sie hätten als freiwillige Helfer wieder Verantwortung zu übernehmen.

Neues Bild vom Alter
Die Expertin für PflegePolitik, Elsbeth Wandeler, die zwar im Rentenalter ist, aber „als politischer Mensch nicht in Pension geht", forderte mehr Partizipation. „Die Politik muss die Kompetenzen der Alten abholen und nicht einfach fertige Vorlagen präsentieren", sagte sie. So müssten zum Beispiel Alterseinrichtungen zusammen mit jenen Menschen geplant werden, die dereinst darin leben werden. Auch sie benannte den Widerspruch, dass die Kompetenzen ihrer Altersgruppe gesellschaftlich zu wenig anerkannt würden und gleichzeitig die Freiwilligenarbeit gepusht werde.

Eine neue, generationenverträgliche Alterspolitik und ein realistisches Altersbild forderte schliesslich René Künzli, Präsident der terzStiftung. Statt ein Rollstuhl sollte die Kompetenz der alten Menschen im Vordergrund stehen. Unter anderem plädierte er für integrierende Wohnprojekte, in denen Alte nicht ins Ghetto verbannt würden. Aus der terzStiftung sind ferner die terzExperten hervorgegangen: Menschen zwischen 55 und 85 Jahren bringen ihre Erfahrungen und Kompetenzen in die Gesellschaft ein. „Es ist wichtig, Tätigkeitsfelder zu entwickeln, die ihren Fähigkeiten entsprechen", meinte Künzli.

Alter(n)sforschung muss nicht akademisch abgehoben sein. Das ZfG betreibt sie seit Jahren nahe an der Praxis, interdisziplinär und mit partizipativem Ansatz. Darüber berichtete Hans Sturm, Mitglied der Arbeitsgruppe Senioren am ZfG. Die Arbeitsgruppe bringt bei den Forschungsprojekten die Perspektive der beforschten Zielgruppe ein. Gemeinsam mit dem ZfG wird eine Kriterienliste entwickelt, als Grundlage für eine partizipative, qualitativ hochstehende gerontologische Forschung. Hans Sturm, der auch noch aktiv ist im Netzwerk Innovage Zürich und im Seniorenrat Baden, kann dabei auf reichlich Erfahrung zurückgreifen. Er versteht das Rentenalter als aktive Phase und will, dass ein „neues Drehbuch von Alter und vom Leben" geschrieben wird.

In einem angeregten Podiumsgespräch vertieften die Referentinnen und Referenten die Themen. Als Fazit der Tagung eignet sich ein Satz von Mike Martin ganz gut: „Alte Personen sind nicht anders als junge, sie sind nur älter." - 8. September 2014

www.zfg.uzh.ch/veranstalt.html

www.youtube.com/watch?v=KijVAQZtMRI