Gelassenheit oder die Kunst des Älterwerdens

Von Bettina Hübscher

An seinem 60. Geburtstag ergriff Wilhelm Schmid eine tiefe Unruhe, mehr noch – Verzweiflung –  angesichts der Tatsache, dass er nun eintrat in eine Phase seines Lebens, in der er gezwungen war, vom „Was wird mein Leben sein?“ zum „Was war mein Leben“ zu gelangen. Rückschau zu halten, sich abzufinden mit der Endlichkeit des Lebens.

Der Bestsellerautor und Lebenskunstphilosoph hat diese Krise überwunden, indem er, wie sollte es anders sein, darüber nachdachte, schrieb und verwarf. Nach einem langen Prozess des Schreibens und gut zwanzig Neufassungen erreichte er diesen erhofften Zustand: den der Gelassenheit, des Hinnehmens der begrenzten Möglichkeiten, die das Leben noch bietet. Ars Vivendi, die Kunst des Lebens, über die er in gewohnt virtuoser, bildhafter Sprache reflektierte und zum Nachdenken anregte. Schreiben und Denken als Therapie.

Aufgeräumt, fast heiter war die Stimmung an diesem Abend im Hotel Schweizerhof. Der Saal  platzte aus allen Nähten, sicherlich über 400 Menschen kamen, um mit dem Autor seine Gedanken zur Kunst der Gelassenheit zu teilen und ihn zu erleben. Gut 450 000 Exemplare des kleinen roten Büchleins waren seit seinem Erscheinen letztes Jahr über den Ladentisch gegangen. Ein gewaltiger Erfolg, der zeigt, wie sehr die Thematik auch jüngere Menschen interessiert und umtreibt. Gelassenheit sei mehr als Ataraxia, also die Abwesenheit von Unruhe.  Gelassenheit bedeutet, die Fähigkeit zu entwickeln,  „zu lassen“. Die Kunst, nicht zu drängen und nicht zu wollen, sei zu kultivieren und zu erlernen.

Ein Ratgeber zur Bescheidenheit
Anhand von zehn Themenfeldern erläuterte Wilhelm Schmid seine Empfehlungen, die durchaus im Sinne eines Ratgebers gedacht und gewollt seien. Bei seiner Mutter habe er gelernt, was es heisse, die letzten Lebensjahre in ruhiger Heiterkeit zu leben. Hinzunehmen, sich zu bescheiden. So empfahl er, nicht anzukämpfen gegen Runzeln und Gebrechen, sondern sich anzustrengen, in Bewegung zu bleiben, innerlich wie äusserlich und ansonsten die Kunst des Lebensgenusses zu pflegen. Gut zu essen, zu akzeptieren, dass Erotik und Sexualität einen anderen, weniger grossen Stellenwert haben als noch in mittleren Jahren. Schmerzen und Begrenzungen des täglichen Lebens zu integrieren. Den Schmerz  zu begrüssen als möglicherweise täglichen Begleiter, der immer wieder, manchmal unverhofft, zu Besuch komme. Er riet zur Pflege der Melancholie – nicht  zu verwechseln mit der pathologischen Ausprägung und grossen Schwester, der Depression. Das Unglück sei als Teil des Lebens, quasi als Gegenspieler zum Glück,  zu akzeptieren. Es könne sogar ab und zu, an tristen Novembertagen etwa, bei einem guten Buch und einem gepflegten Glas Wein ein wenig kultiviert werden. Aber eben, nur ein Glas Wein, vielleicht zwei, denn Begrenzung und Disziplin seien gute Ratgeber bei der Kunst des guten Alterns.

Berühren und berührt zu werden, durchaus auch in physischer Ausprägung, seien wichtige Protektoren gegen Einsamkeit und Lebensangst. Freundschaft sei zu pflegen, Menschen, die einem mögen, „obwohl sie einem kennen“, zu suchen und Liebe zwischen den Generationen zu geniessen. Und dann der Umgang mit dem Tod, das konfrontiert sein mit der eigenen Endlichkeit, das sich besonders schmerzhaft zeige beim Ableben der Eltern. Diese hatten sich bis anhin „zwischen dich und den Tod gestellt“. Was folgt? Das endgültige Ausgeliefertsein, auf sich zurück geworfen werden. Der Trost, dass da noch mehr sein könnte nach dem Tod, die Materie sich transferiert, die Energie bestehen bleibt. Nennt man diese Energie göttlich, gibt es ein Leben im Jenseits, treffen wir Verstorbene wieder an? Diese grossen Fragen können nicht abschliessend beantwortet werden, darüber nachzudenken sei alleweil gut.

Der Vortragszyklus „Lebensreise“ im Projekt „Altern in Luzern“ fand mit diesem fünften und letzten Event einen stimmigen Abschluss. Die Reise geht weiter – in welcher Form und auf welcher Route wird sich zeigen. www.lebenskunstphilosophie.de

"Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden“. Insel Verlag, Berlin 2014.
17. Auflage 2015