Welche Art von Pflegeinstitutionen brauchen wir in Zukunft?

Von Markus Leser*

Ich werde diese Frage nicht in 15 Minuten abschliessend beantworten können, aber einige Gedanken aus vier verschiedenen Perspektiven dazu vorbringen: Als Babyboomer - wir reden heute Abend nicht über mich, aber über Leute wie mich – über meine Generation (bin im letzte Drittel dieser Generation); als Gerontologe, der dieses Jahr sein 30-jähriges Dienstjubiläum feiern darf; als Mitarbeiter von CURAVIVA, dem Verband Heime und Soziale Institutionen Schweiz: als Sohn einer 80-jährigen Mutter, die sich derzeit mit dem Wohnen und Leben im 4. Lebensalter (das beginnt bekanntlich irgendwo zwischen 80 und 85) beschäftigt.

In einer Studie des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich aus dem Jahre 2013 wurde gefragt, welche Wünsche haben Sie an ihr viertes Lebensalter? Ich möchte nicht ins Heim gehen, lautete einer der Wünsche. Dafür gibt es eine einfache Lösung: Wir schaffen die rund 1700 Heime in der Schweiz ab, schicken die rund 120 000 Bewohnerinnen und Bewohner nach Hause, den Fachbereich Alter von CURAVIVA Schweiz braucht es dann nicht mehr, ich suche mir morgen einen neuen Job und wir können jetzt alle wieder nach Hause gehen.

Wollen Sie ins Heim gehen?

So einfach ist es nicht und ich muss Sie an dieser Stelle auf einen der grössten Fehler aufmerksam machen, den wir seit Jahrzehnten bei der Frage: Heim oder nicht Heim? machen. Wir fragen immer: Wo wollen Sie im hohen Alter wohnen und erhalten die Antwort von 99 Prozent der Befragten: in den eigenen vier Wänden zu Hause! Doch die Frage ist falsch gestellt, und wenn wir die falschen Fragen stellen, braucht es nicht zu verwundern, wenn wir die falschen Antworten erhalten.

Die korrekte Frage lautet: Wo können Sie im hohen Alter noch wohnen? Dann erhalten wir andere, differenziertere Antworten: Rund 85 bis 90 Prozent aller über 65-jährigen werden sagen: in den eigenen vier Wänden (zuhause), 10 bis 15 Prozent aller über 65-jährigen werden sagen: am angestammten Wohnort geht es nicht mehr, heute sind das rund 120 000 Personen, die im Heim leben. Wunsch und Realität können hier also auseinanderklaffen, aber das ist keine neue Erkenntnis und eigentlich im Leben ganz normal. Warum nur stellen wir im Alter den Wunsch soweit über die Realität? Ob das mit einem urmenschlichen und gesellschaftlichen Abwehrmechanismus dem hohen und allenfalls gebrechlichen Alter gegenüber zu tun hat? Jedenfalls scheint die Idee, alle Heime abzureissen und diejenigen, die nicht mehr zuhause wohnen können einfach auf die Strasse zu stellen, keine gute Alternative zu sein. Ziel unserer Bemühungen muss vielmehr sein: alle Wohnformen müssen im hohen Alter zu den „eigenen vier Wänden" werden.

Von der Verwahrungsanstalt zum Quartierhaus

Welche Pflegeinstitutionen brauchen wir also in Zukunft? Ich möchte zuerst einem Blick in die Vergangenheit werfen und kurz den Wandel der Pflegeinstitutionen – gemäss der Heimtypologie des Kuratoriums Deutsche Altershilfe - aufzeigen:

Erste Generation der Pflegeinstitutionen(1900 bis 1950/60): Das waren Verwahranstalten; ältere, meist einsame und ärmere Menschen sollen versorgt werden in Mehrbettzimmer (bis zu 8 Betten in einem Schlafsaal). Das habe das als junger Pflegehelfer vor dem Studium Ende der 70er Jahre noch selbst erlebt. Man sprach von den „Insassen". Solche Institutionen brauchen wir heute nicht mehr und haben wir auch nicht mehr.

Zweite Generation (bis ca. 1980): Das Leitbild war das Spital, der „Insasse" wurde zum Patient, der geheilt und gepflegt werden muss. Das Defizit steht im Zentrum, das therapiert werden muss. Heime sind die kleinen Brüder und Schwestern der Spitäler und sehen auch aus wie Spitäler – schlimmer noch: vielfach wurden in ehemalige und stillgelegte Spitäler Heime einquartiert. Die kleine Schwester des Spitalbaus brauchen wir in der Langzeitpflege nicht mehr, dort wo es sie noch gibt, müssen sie sich wandeln.

Dritte Generation (seit ca. 1980): Weg vom Defizitmodell hin zum Kompetenzmodell (die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen treten in den Mittelpunkt). Baulich orientieren sich diese Institutionen am Wohnbereichskonzept und konzeptionell an einer aktivierenden Pflege. Es wird nicht nur gepflegt, sondern auch gewohnt – nicht auf der Pflegestation, sondern in Wohngruppen. Zunahme an Individualität und Privatheit ist wichtig. Es entstehen aber auch viele neue Zusatzangebote: betreutes Wohnen, Spitex-Dienstleistungen, spezialisierte Betreuungsformen für Menschen mit Demenz, Palliative Care – die Institutionen wandeln sich zu einem Zentrum mit verschiedenen Dienstleistungsangeboten.

Vierte Generation (seit ca. 1995): Hausgemeinschaftsmodell, vor allem – aber nicht nur – geeignet für Menschen mit Demenz. Man wohnt in Gemeinschaftswohnungen zusammen (im stationären aber auch im ambulanten Umfeld möglich). Eigene Haustüre und Türglocke, alle haben ein eigenes Zimmer. Zentral ist die grosse Wohnküche, wo man den Alltag miteinander verbringt – gemeinsam kocht, isst. Grosse zentrale Einheiten wie Speisesäle, Grossküche oder Wäscherei benötigt es nicht mehr. Die Hausgemeinschaft wird nach dem „Normalitätsprinzip des Alltages" geführt, Betreuung und Begleitung steht im Mittelpunkt. Die Pflege kommt bei Bedarf von aussen (Spit-In).

Fünfte Generation (seit 2010): Das Quartier gilt als zentraler Lebensraum, hier steht die Lebensqualität des Einzelnen in seinem angestammten Wohnumfeld im Vordergrund. Die Ausgangsfrage lautet: Welche Bedürfnisse haben die Menschen eines bestimmten Quartieres? Das kann sich von Quartier zu Quartier unterscheiden. Pflegeinstitutionen werden hier zu Quartiershäusern mit einen vielfältigen Angebot; das Quartier kommt ins Haus, das Haus geht ins Quartier.

Quartier und Institution verschmelzen

Drei Grundpfeiler gelten: Leben in Privatheit: betreutes Wohnen in eigenen Appartements und/ oder zuhause (Service à la carte); Leben in Gemeinschaft oder andere spezialisierte Betreuungsformen für Menschen mit speziellen Bedürfnissen (Demenz, Palliative Care, Gerontopsychiatrie); Leben in der Öffentlichkeit: Es wird alles getan, damit Quartier und Institution miteinander verschmelzen, kein entweder oder (öffentliche Gemeindebibliothek, Modelleisenbahnanlage, Kindertagesstätten, Fussballfelder – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt). Neu ist der Quartiersgedanke nicht, aber er erlebt derzeit ein Revival. Man merkt langsam, dass es mit einer „entweder-oder-Taktik" nicht mehr geht. Denn wir können die künftigen Herausforderungen in der Langzeitpflege nicht mehr im Alleingang lösen. Umso weniger sind deshalb die trennenden Mechanismen des Gesundheitswesens in der Schweiz (zum Beispiel 26 kantonale Hitzekonzepte!) oder der finanzpolitische Slogan ambulant vor stationär zielführend. Künftig gilt ambulant und stationär.

Ich bin seit 12 Jahren bei CURAVIVA Schweiz und seit 12 Jahren streiten wir uns über Finanzierungsfragen in der Langzeitpflege. Lösungen lassen noch immer auf sich warten. Warum? Weil Finanzpolitik vor gerontologischen Konzepten kommt – statt umgekehrt. Die Pflegeinstitutionen müssen sich wandeln, wandeln müssen sich aber auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Denn Heime können den gesellschaftlichen Widerspruch über das 4. Lebensalter nicht alleine lösen. Sollen Heime möglichst billig sein, oder die Vielfalt des menschlichen Lebens im Alter abbilden? Ich plädiere für letzteres und komme zum Fazit:

1. als Gerontologe und Babyboomer: Wir haben heute eine Vielzahl von Wohnformen im Alter und im hohen Alter. Vom betreuten Wohnen über das Wohnen mit Services und spezialisierten Wohn- und Pflegeangeboten (ambulant und stationär). Der US-Autor Deane Simpson hat in seinem neuen Buch „Young-Old" die Welt bereist und ganz verschiedene Wohnformen im Alter und hohen Alter vorgestellt: ein ehemaliger Vergnügungspark in Japan wurde in betreutes Wohnen umgebaut. Es gibt in den USA Seniorenstädte, da gehen die Menschen nicht mit dem Rollator zum Einkaufen, sondern fahren mit dem Golf Cart, Campingmobile machen mobil und man trifft sich abends auf einem Campingplatz (die Pflegefachkraft fährt mit); manche Kreuzfahrschiffe sind auf dem besten Weg zu schwimmenden Altersheimen zu werden; in der Schweiz gibt es nur noch wenige traditionelle Altersheime (Wohnen ohne pflegerische Leistungen in einem kleinen Zimmer, Ausnahmen bestätigen die Regel), hingegen Pflegeinstitutionen mit spezialisierten Dienstleistungen; das grösste Altersheim in Europa liegt allerdings an der Costa del Sol.

2. als Vertreter von CURAVIVA: Ich sage nicht: bitte kommen Sie zu uns in die Pflegeheime – wir brauchen Sie (keine Kaffeefahrt mit anschliessendem Verkauf, zudem bin ich auch kein Verkäufer); wir setzen uns für die Vielfalt des Lebens und Wohnens im Alter ein; Pflegeinstitutionen sind ein Teil dieser Vielfalt und Pflegeinstitutionen bieten Dienstleistungen vor dem Tod (ja - in den Heimen wird gestorben). Solange unsere Gesellschaft den Tod verdrängt, verdrängt sie auch die Pflegeheime. Wir müssen die Pflegeinstitutionen aus der „Todesecke" herausholen, eben mitten ins Leben, mitten ins Quartier. Dort würde eigentlich auch der Tod hingehören - aber das ist ein anderes Thema.

3. als Sohn einer betagten Mutter: Sie lebt seit dem Tod meines Vaters vor drei Jahren alleine in ihrem Haus, kürzlich stürzte sie – was nun? Sie hat das Pech, dass sie einen Gerontologen als Sohn hat, schlägt sich wacker – möchte aber das, was ich ihr immer sage oft nicht hören. Ich sage es trotzdem: Geht das, selbstbestimmt und in Freiheit ein hohes Alter erreichen? Oder bedingen Selbstbestimmung und Freiheit Entscheidungen? Wer nicht entscheidet läuft Gefahr, dass es andere tun (müssen) – das ist dann das Gegenteil von Selbstbestimmung! Doch niemand kann Ihnen sagen, was der richtige Entscheid ist und wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Das ist das Spannende am Älter werden.

* Dr. Markus Leser ist Leiter des Fachbereichs Alter bei CURAVIVA Schweiz, dem nationalen Dachverband von 1700 Pflegeinstitutionen.