Zurück aus Palästina

Seit fünf Wochen bin ich wieder zu Hause. Ich war Zeugin von Menschenrechtsverletzungen, von Erniedrigung, Hoffnungslosigkeit, aber auch von Kampfgeist und Solidarität. Ich habe PalästinenserInnen kennen gelernt, aggressive SiedlerInnen, engagierte IsraelInnen. Ich habe drei Monate in Yatta, einer Stadt von der Grösse Luzerns gewohnt, die von den PalästinenserInnen in andern Teilen der Westbank als hinterwäldlerisch belächelt wird.

Von Edith Hausmann

Eine der Aufgaben, die MenschenrechtsbeobachterInnen in den South Hebron Hills wahrzunehmen haben, ist Präsenz zu zeigen in den Strassen von Yatta. Für diese Aufgabe war Luc, unser Kollege aus Frankreich, besonders talentiert.  Er war ein Schleckmaul und hat alle Bäckereien abgeklappert auf der Suche nach den ultimativen Baklawas. Jede neue Bäckerei hatte wieder Bessere anzubieten. Meist wurde ihm auch das gesamte Sortiment zum Probieren angeboten.  Eine Folge seiner Baklawa-Tours war, dass unsere Kollegin, Brita aus Norwegen,  in den drei Monaten sieben Kilos zugenommen hat. (Das Bild zeigt Krapfen, gefüllt mit Nüssen, getrockneten Früchten und Honig)

Eine weitere Möglichkeit, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, war für Luc das wöchentliche Rasieren im Barber-Shop. Beim ersten Mal wurde ihm, wie das üblich ist, Tee angeboten. Bei seinem nächsten Besuch wurde bereits Essen aufgetragen. Luc konnte die Rasur aber nicht so recht geniessen, denn die vielen herumrennenden Kinder, fürchtete er, könnten den Barbier ablenken oder gar schubsen.

Shaqiri war die Brücke
Die PalästinenserInnen haben den Ruf, humorvoll zu sein. Für mich als Frau war Humor insbesondere in Begegnungen mit Männern hilfreich. So zum Beispiel, wenn ich alleine einkaufen ging.  Ich wurde immer gefragt, woher ich käme. In einem Geschäft stellten mir zwei junge Männer diese Frage. Ich sagte: „Schweiz“. Ihre Antwort, ganz erfreut: „Ah, Sepp Blatter“ (der Fifa-Präsident). Ich bestätigte. Ich hätte ihnen gerne erklärt, dass ich auf diesen Landsmann nicht stolz sei. Weil mein Arabisch dazu nicht ausreichte,  liess ich es bleiben, versuchte aber doch noch, eine positiver besetzte Person zu nennen und sagte: „Shaqiri“ (den Fussballer). Wieder freudiges Erkennen bei meinen Gesprächspartnern. Ich fügte hinzu: „Und Roger Federer“, was wieder Freude auslöste. Ich doppelte nach: „Stan Wawrinka“. Auch ihn kannten sie. Nachdem wir diese „gemeinsamen“ Bekannten ausfindig gemacht hatten, waren wir schon fast gute Freunde. Es scheint, dass, Adolf Ogi, mit seiner Beschwörung, dass Sport die Völker verbinde, doch ein bisschen recht gehabt hat. Von da an winkten mir die beiden Männer, wenn ich auf meiner Einkaufstour an ihrem Geschäft vorbei kam.  Wenn ich etwas Bestimmtes suchte, wandte ich mich an sie. Sie boten mir immer Hilfe an, versuchten meinen Wunsch zu verstehen, fragten Passanten nach dem von mir Gesuchten, oder schickten einen Jungen, mich zu begleiten.

Kindern begegnen
Die palästinensischen Familien sind kinderreich. Den vielen Kindern gehört nach Schulschluss die Strasse. Die Mädchen gehen zu viert nebeneinander. Das Hupen der Autos stört sie nicht. Und die Autofahrer finden sich damit ab. Unser Fahrer hat jeweils nur bemerkt „They don't care!“. Sie kümmern sich nicht.

Manchmal sind mir die Kinder lästig geworden mit der jeden Tag von Neuem gestellten Frage „What's your name?“, die ich doch schon so oft beantwortet hatte. Eines Tages aber fragte mich ein  etwa 10-jähriger Junge, der alleine unterwegs war, nach meinem Namen. Ich beantwortete seine Frage. Er schien denselben Weg zu haben wie ich, ging neben mir her, ohne viele Worte. An der Strassenecke, wo sich unsere Wege trennten, lud er mich ein, zu ihm nach Hause zum Tee zu kommen. Ich war überrascht, lehnte seine Einladung freundlich ab. Er lächelte und verabschiedete sich, schaute und nach einigen Metern zurück und winkte. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Was wohl seine Mutter gesagt hätte, wenn er mich zum Tee mitgebracht hätte? Mir hätte sie sicher Tee angeboten.

„Mehr Zuhören als Reden“
Eine Empfehlung, die wir in unserer Vorbereitungswoche immer wieder hörten, war „mehr Zuhören als Reden!“ Wir WestlerInnen sind schnell, auch ungefragt, mit vermeintlich guten Ratschlägen zur Hand. Da ich das Gesagte oft nicht verstand, musste ich Fragen stellen, oder mich auf Zuschauen und Beobachten beschränken.

Ein Nachbar kam eines Tages zu uns rüber und lud uns in sein Haus ein. Er wollte uns den ältesten Mann der Familie, der über 100 Jahre alt sein sollte, vorstellen. Wir erlebten ein lebhaftes bis hitziges Gespräch, geführt zwischen der Mutter unseres Nachbarn und dem Besucher, dem angeblich über 100 Jahre alten Mann. Weil ich nicht verstand, beobachtete ich das Mienenspiel und die Gestik.  Mir schien die Stimmung sehr angespannt. Wir verabschiedeten uns bald und bedankten uns für den Tee. Ich fragte später unseren Nachbarn, was denn diskutiert worden sei. Er antwortete, dass der alte Mann gekommen sei, um über die Rückkehr der Schwester unseres Nachbarn zu ihrem Ehemann zu verhandeln. Ich hatte mich schon gewundert, warum die junge Frau, die erst seit kurzem verheiratet und schwanger war, bereits seit einigen Wochen bei ihren Eltern lebte. Die Ehe scheint nicht glücklich zu sein. Über das Schicksal der Eheleute scheinen die Ältesten der beiden Familien zu entscheiden. Welcher Art die Probleme und was die Interessen der beteiligten Familien sind, habe ich nicht erfahren. Weitere Fragen zu stellen, schien mir nicht angebracht.

Die Dachterrasse als Ausguck
Von der Dachterrasse aus konnte ich auch gut das Geschehen auf der Strasse oder auf benachbarten Terrassen beobachten.   Eines Tages sah ich da ein etwa 9-jähriges Mädchen. Es trug die High Heels seiner Mutter und schien Einkaufen zu spielen. Das Mädchen war ganz in sein Spiel vertieft und bemerkte mich nicht. Ich hätte gerne meine Kamera geholt, um den Moment festzuhalten. Ich liess es bleiben. Ich hätte wohl die Hingabe des Mädchens an sein Spiel zerstört.

Einmal, wie ich auf der Dachterrasse Wäsche zum Trocknen aufhängte, sah ich eine unserer Nachbarinnen an einer offenen Feuerstelle Brot backen. Ich ging runter und fragte, ob ich ein Foto machen dürfe. Sie bejahte. Es war klar, dass sie nicht auf dem Bild sein wollte. Sie freute sich über mein Interesse und schenkte mir ein Brot. Es schmeckte wunderbar. Das nächste und alle weiteren Male, wie sie wieder an ihrem Open-Air-Backofen am Werk war, beschenkte sie uns mit einem Brot.

Die Dachterrasse war für mich auch Rückzugsort. Ausser zum Wäsche aufhängen, benutzte sie niemand von unserem Team. In den kältesten Tagen war es dort, sobald die Sonne schien,  wärmer als im Haus. Spät abends war sie mein Trainingsraum. Sportlich aktiv sein zu können, joggen etc. war nicht möglich. Und es fehlte mir. Um doch einigermassen fit zu bleiben, um vielleicht nach meiner Rückkehr noch die eine oder andere Skitour machen zu können, habe ich jeweils spät am Abend auf der Dachterrasse mein persönliches Fitnessprogramm absolviert.

Fragen stellen
Fragen zu stellen ist eine gute Möglichkeit, mit den Menschen in Kontakt zu kommen. So habe ich erfahren, wie wichtig Olivenbäume als Standbein der palästinensischen Landwirtschaft sind. Das Ausreissen von jungen Olivenbäumen oder Umsägen grösserer Bäume durch Siedler trifft den wirtschaflichen Lebensnerv der Bauern. Ich habe immer wieder nach dem Ertrag eines Olivenbaums gefragt oder wie alt, diese oder jene Bäume seien. So habe ich nach einer Weile das Alter von Olivenbäumen einschätzen können.

Gegen Ende März waren viele Frauen, Kinder und Jugendliche unterwegs um Kräuter und wilde Gemüsepflanzen zu sammeln. Ich habe immer nach der Verwendung der Pflanzen gefragt, und wie dieses oder jenes Gemüse zubereitet werde. Bei unseren Besuchen in Dörfern, war eine anfängliche Scheu oder Zurückhaltung der Frauen schnell verflogen, wenn ich ihnen beim Kochen zuschaute und mir Sachen erklären liess.

Arabisch lernen
Neben dem Arabischkurs, den ich vor meiner Ausreise in der Schweiz besucht habe und den Lektionen bei einem einheimischen Lehrer in Yatta, waren Bauern, Hirten, Verkäufer, Nachbarn auf Busfahrten und unser Chauffeur meine „Lehrer“. Mein Vokabular beinhaltet die Namen vieler Lebensmittel, Fachwörter wie Siedler, Siedlung, Maschinengewehr, israelische Soldaten, Steine. Das Wort für „Schnee“, „thälitsch“, werde ich nie mehr vergessen. Unser Chauffeur hat es tausendfach, immer wenn er noch den kleinsten Fleck Schnee gesehen hat, begeistert wiederholt. Seiner Freude keinen Abbruch getan hat meine Aussage, dass der Schnee in den Schweizer Bergen meterhoch liege.

Edith Hausmann wurde von HEKS und Peace Watch Switzerland als Menschenrechtsbeobachterin nach Palästina und Israel gesendet, wo sie am ökumenischen Begleitprogramm (EAPPI) des Weltkirchenrates mitwirkt. Die in diesem Artikel vertretenen Meinungen sind persönlich und decken sich nicht zwingend mit denjenigen der Sendeorganisationen. Falls Teile daraus verwendet oder der Text weitergesendet werden sollten, kontaktieren Sie bitte zuerst Peace Watch Switzerland unter palestine@peacewatch.ch

Weitere Informationen zum Begleitprogramm in Palästina/Israel unter www.eappi.org und www.peacewatch.ch