„Die Zukunft ist weniger“
Von Otti Gmür

Nach dem Angebot, Kolumnen für die Internet-Plattform von Luzern60plus zu schreiben, stellte sich mir die Frage, was denn plus im Zusammenhang mit der Zahl 60 bedeuten kann. Die Zahl ist verständlich, sie bezeichnet eine Altersgrenze. Beim Rechnen heisst plus, das eine zum anderen dazu zu zählen.

Plus kann auch heissen: besser, schneller, höher, reicher, unabhängiger. Wir meinen damit Aspekte, die an sich oder im Vergleich in einem aufwertenden Sinne messbar sind. Das Plus verbindet sich hier mit gewinnen und mehr haben. Die Worte gebrechlicher, langsamer, vergesslicher, runzeliger, einsamer, bezeichnen dagegen Aspekte in einem abwertenden Sinne. Sie sind mit der Vorstellung von Umständlichkeiten und mehr Aufwand an Geld und Zeit verbunden. Bemessen und zählen sind prägende und vorherrschende Aktionen in unserer Gesellschaft. Oft greifen sie einem nachdenklichen, breiteren und tieferen Verständnis des Geschehens vor.

Plus kann anderes bedeuten, zum Beispiel, mehr Geduld haben, gelassener werden, freier über Zeit verfügen, weiser handeln. Es können auch  Erwartungen sein nach mehr Zuwendung, mehr Pflege, mehr Rücksicht, mehr Respekt. Das sind Aspekte, die sich dem Messen aber auch dem Konsumieren entziehen. Ihre Bewertung geschieht in der Wahrnehmung und den damit verbundenen Empfindungen, Langeweile, Verlassenheit, Verloren sein auf der schwierigen Seite, aber auch Erkennen von Zusammenhängen, Freude an bisher Unbekanntem und dankbar sein, auf der guten Seite.

Mehr von was könnten wir noch erreichen? Älter werden natürlich und trotz abnehmendem Lebensschwung sich in Geist und Körper zu hause fühlen. Sorgfältiger Quantität und Qualität unterscheiden, erkennen, dass Haben noch nicht Sein bedeutet und dass in einem guten Leben weniger auch mehr sein kann. Mir scheint, es gehöre zur Aufgabe der älteren und immer zahlreicher werdenden Generation, sicht- und spürbar zu machen, dass zu einer Bergwanderung nicht nur hinaufsteigen gehört und der genussvolle Ausblick, sondern auch der Abstieg, der in eigener Weise mühsamer und gefährlicher sein kann.

Etwas wesentlich Verbindendes im älter werden, liegt wohl darin, dass  die Veränderungen im persönlichen Bereich in Zeitintervallen erfahren werden, die nicht nur kürzer werden, sondern deren Vergänglichkeit immer klarer wird. Dass die Welt sich wandle ist so schnell gesagt wie verbunden mit der Erwartung des stetigen Wachstums. Kürzlich zeigte eine grafische Darstellung einer wissenschaftlichen Untersuchung den Gebrauch der Begriffe Fortschritt und Innovation. Fortschritt war der Mythos des 19. und 20. Jahrhunderts. Er hat im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts seinen Glanz verloren und wurde vom neuen Mythos Innovation abgelöst. Innovativ zu sein, ist heute sowohl Versprechen als auch Herausforderung. Sie erscheint manchmal fast ultimativ, selbst auf Kosten der ebenso oft beschworenen Nachhaltigkeit. Die Angebote an die ältere Generation dabei mitzuhalten sind zahlreich. Aber im älter und alt werden, können wir dem auch manches entgegensetzen. Uns weniger beherrschen lassen von zählen, aufzählen und zusammenzählen und dafür versuchen, die eigenen vielfältigen Erfahrungen aus Plus und Minus, von Früherem und Kommendem erzählend weiter zu geben.

Uns allen wünsche ich ein gutes Unterwegssein.
8. Mai 2012

(„Die Zukunft ist weniger“, das war der Titel einer Stadtbauausstellung vor zwei Jahren in ehemaligen DDR-Gebieten, wo die Städte schrumpfen.)

Zur Person:
Otti Gmür, Architekt und Publizist, gilt als einer der profundesten Kenner der Luzerner und Zentralschweizer Architekturlandschaft. Der 80-Jährige setzt sich seit Jahrzehnten mit viel Leidenschaft und Kontinuität mit Themen des Städtebaus und der Architektur auseinander. Wichtige Publikationen u.a.: "Stadt als Heimat - die Stadt, in der wir leben möchten " (1977), "Spaziergänge durch Raum und Zeit" (2003). Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern (2012).