Brigitte Mürner, Regierungsrätin, 1988 im Lichthof des Luzerner Regierungsgebäudes. Foto: René Regenass

«Ich lebe Frauensolidarität bewusster»

Brigitte Mürner-Gilli, die ehemalige Luzerner Regierungsrätin erzählt, wie sich die beiden Abstimmungen über das Frauenstimmrecht auf ihr Leben ausgewirkt haben.

 

Zwischen 1959 und 1970

Die Ablehnung des schweizerischen Frauenstimmrechts im Jahre 1959 hat in aufgeschlossenen Kreisen der Schweiz viel Empörung ausgelöst und hatte zur Folge, dass Frauen überall, wo es legal war,  gefördert und eingesetzt wurden, so etwa in Projektgruppen, Kommissionen und Vereinen. Gegipfelt hat die Empörung in den 68-er Unruhen an den Universitäten, wo die Studierenden mehr Aufgeschlossenheit, mehr Demokratie und die Gleichbehandlung der Geschlechter forderten. Auch im Kanton Luzern setzte eine rege Frauenförderung ein.

Ausbildung

Ich wuchs in Reussbühl auf, das zur damaligen Gemeinde Littau gehörte. 1959 entschloss ich mich, Lehrerin zu werden. Für die Aufnahme ans städtische und liberal geprägte Lehrerseminar, das auch von Mädchen besucht werden durfte, hatte ich trotz sehr gutem Zeugnis keine Chance, obwohl ausserstädtische Jugendliche gelegentlich auch Zugang hatten. Vermutlich war die parteipolitische Zugehörigkeit meines Vaters zur konservativen Partei der Grund für die Ablehnung.  Die Aufnahme ans städtische Seminar erfolgte stets ohne Aufnahmeprüfung und „handverlesen“, was Kinder von liberalen Eltern begünstigte.

So trat ich 1960 ins private Lehrerinnenseminar des Klosters Baldegg ein, weil es damals im Kanton Luzern kein öffentliches kantonales Lehrerseminar gab, das jungen Frauen offen stand. Die ersten drei Jahre mussten im Internat absolviert werden, obwohl für mich der Schulweg mit der Seetalbahn von Reussbühl aus problemlos zu bewältigen gewesen wäre. Das strenge Internatsleben überstand ich einigermassen unbeschadet. Nach zwei Jahren Externat und dem „Lehrerpatent“ in der Tasche unterrichtete ich mit Begeisterung 6.-Klässler und Realschülerinnen in Reiden und Littau. Obwohl mein Lohn um den Ansatz von zwei Wochenstunden kleiner war als jener meiner männlichen Kollegen, erteilte ich neben dem vollen Pensum noch unentgeltlich Turn- und Religionsunterricht.

Partnerschaft

Als ich 1968 heiratete, schenkte uns der zuständige Zivilstandsbeamte eine Broschüre, in der es eine Seite „nur für den Mann“ und eine „nur für die Frau“ gab. Und nur für die Frau galt, dass sie dem Ehegatten in rechtlichen Angelegenheiten unterstellt, also eigentlich unmündig, war. Dies war jedoch für mich nur grundsätzlich und theoretisch ärgerlich, denn mein Mann konnte glücklicherweise mit unselbständigen Frauen nichts anfangen und hat mich stets als gleichberechtigte Partnerin akzeptiert. 1969 wurde ich Mutter unseres ersten Kindes.

Die 70-er Jahre

waren geprägt von kaum je erlebten Veränderungen auf allen Gebieten. Der wirtschaftliche Aufschwung, aber auch die Folgen der 68er-Bewegung einer freiheitlich ausgerichteten und gebildeten Jugend lösten zahlreiche gesellschaftliche Anpassungen an eine selbstverantwortliche moderne Gesellschaft aus, von denen die Frauen spürbar profitierten. Im Anschluss an eine von der Konservativen Volkspartei am 28. Juli 1969 eingereichten Volksinitiative für das kantonale Frauenstimmrecht wurde schon bald die Vorbereitung einer Volksabstimmung über eine entsprechende Verfassungsinitiative an die Hand genommen. Bereits am 25. Oktober 1970 wurde dieses von den Luzerner Männern angenommen. Dass dies ein konservativer Kanton noch vor der schweizerischen Abstimmung zustande brachte, hatte in der ganzen Schweiz Erstaunen ausgelöst und hat die auf den 7. Februar 1971 angesetzte schweizerische Frauenstimmrechts-Abstimmung zugunsten der Befürworter begünstigt.

Familienzeit

1971 war ich Mutter eines knapp 2-jährigen Bübchens und schwanger mit dem zweiten Kind. Den Beruf als Lehrerin hatte ich aufgegeben, so wie es damals fast alle Frauen in ähnlicher Situation taten. Gelegentlich übernahm ich Stellvertretungen für Lehrer, die Militärdienst leisten mussten.

Weil wir Luzerner Frauen in kantonalen Angelegenheiten schon stimm- und wahlberechtigt waren, wurde ich noch vor der Einführung des schweizerischen Frauenstimmrechts von einem CVP-Mitglied angefragt, ob ich für den Einwohnerrat der Gemeinde Littau kandidieren würde, denn es sollten auch die Namen von Frauen auf der Wahl-Liste stehen. Ich lehnte das Angebot wegen der Schwangerschaft ab und bot an, dass man mich ja in vier Jahren wieder fragen könne; dann müssten doch bestimmt wieder Kandidatinnen gesucht werden. Die Auseinandersetzung mit der Anfrage weckte in mir das Interesse an der Politik, und ich beschaffte mir die Parteiprogramme der CVP, der LPL und der SP. Jenes der CVP passte mir am besten, weil es keine Position an den Polen erforderte. Im Juli 1971 kam das zweite Bübchen und ein Jahr darauf ein Mädchen auf die Welt. Für relativ kurze Zeit genoss ich das Leben als glückliche Ehefrau, Mutter und Hausfrau. Ich nahm die Umstände des Lebens an, so wie sie waren und war zufrieden damit.

Wiedereinsgtieg in berufliche Tätigkeiten

1973 wurde in Littau die Gründung einer Musikschule bschlossen, und mein Mann wurde als Leiter angefragt. Er konnte sich nicht so recht anfreunden mit der Aufgabe, denn er war begeisterter Sekundarlehrer und wollte sein Pensum nicht reduzieren. Ich – immer noch recht weit entfernt von der Vorstellung, dass ich als 29-jährige Frau und Mutter von 3 Kindern je Leiterin werden könnte - motivierte ihn bis zum Äussersten, diese interessante Aufgabe anzunehmen; ich würde ihm die Hintergrundarbeiten gerne abnehmen. Schlussendlich boten wir dem Kommissionpräsidenten an, die Aufgabe als Leitungspaar auszuüben. Dieser war aber gegen geteilte Verantwortung und schlug vor, dass halt ich die Leitung übernehmen soll. Total überrascht von diesem Vorschlag und motiviert duch das entgegengebrachte Vertrauen sagte ich in Erinnerung an einen wiederholten Mahnspruch meiner Mutter zu: Was Männer können, kannst auch du!

Was bestimmt meinen Mut auch begünstigt hat, war die erst kurz davor erfolgte Zustimmung der Schweizer Männer zum Frauenstimmrecht und die daraus erfolgten gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Es war eine phantastische Zeit des Aufbruchs, neuer Chancen und der unwiderruflichen Gewissheit, dass für mich und für alle Frauen viel mehr möglich würde als vor 1971. Obwohl ich in meiner bisherigen Aufgabe als Mutter und Hausfrau glücklich war, freute ich mich über die neuen Möglichkeiten und Chancen der Lebensgestaltung.

Brigitte Mürner-Gilli, wie sie uns heute begegnet.

Politik

Als Musikschulleiterin, ehemalige Lehrerin und Lagerleiterin in meiner Gemeinde hatte ich mir einen Bekanntheitsgrad erworben, der mir 1975 die Wahl in den Luzerner Grossen  Rat ermöglichte. Und ein erstes Sachthema war auch schon gesetzt: Die Optimierung der Musikerziehung im Kanton Luzern. Dieses Engagement bescherte mir den ersten politischen Erfolg. Mein Schwerpunkt blieb während der 12 Jahre als Grossrätin die Bildungspolitik, aber ich engagierte mich auch für die Sozial- und Umweltpolitik.

Die 80-er und 90-er Jahre

Die tatsächliche Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern verbesserte sich nur in kleinen Schritten und vorerst vor allem in den Parlamenten. In die Exekutiven hielten Frauen nur nach und nach Einzug. Dies, weil Männer den Frauen die meist gut bezahlten Exekutivämter nich konkurrenzlos über lassen wollten, aber auch, weil sich noch viele Frauen ein solches Mandat nicht zutrauten. Noch viel geringer als in der Politik ist aber bis heute die Frauenvertretung in Kaderpositionen der Wirtschaft.

Als ich 1987 als erste Frau in den Regierungsrat gewählt wurde, war der Zeitpunkt gekommen, da auch mein Mann die einschneidenden Folgen einer voll berufstätigen Frau zu spüren bekam. Er bot mir schon während des Entscheidungsprozesses vor dem Ja zur Regierungsratskandidatur an, vorerst ein Jahr unbesoldeten Urlaub als Sekundarlehrer zu nehmen, um für die Kinder (damals 18, 16 und 15) und den Haushalt da zu sein. In der Folge reduzierte er sein Pensum um 50%. Und wir beide wurden gewahr: Frauen-Emanzipation bedeutet auch Männer-Emanzipation!  

Für meine Kollegen im Regierungsrat war klar, dass ich das Bildungs- und Kulturdepartement übernehmen sollte, was mir natürlich nur lieb war. Während der nun folgenden 12 Jahre hatte ich ein immenses Paket an Reformen und neuen Projekten zu bewältigen, so vor allem: Neue Volksschulstrukturen mit Schulleitungen und zeitgemässem Controlling; Die Gymnasialreform mit der Schaffung des Kurzzeitgymnasiums und einer Maturitätsschule für Erwachsene; Die LehrerInnen-Bildungsreform mit der Schaffung der Pädagogischen Hochschule; Die Schaffung der Fachhochschule Zentralschweiz; sowie last but not least: die Planung der Universität Luzern. All diese Neuerungen machten zudem eine Totalrevision des damaligen Erziehungsgesetzes und die Gliederung in fünf Teilgesetze sowie ein Kulturföderungsgesetz notwendig.

Rückblick

Wie alle Politikerinnen und Politiker war auch ich angewiesen auf Rückmeldungen. Ich freute mich darüber, dass mich viele Mitbürgerinnen und Mitbürger als kompetente Bildungspolitikerin und als unabhängig von äusseren Machteinflüssen betrachteten. Mit meinem partnerschaftlichen Führungsstil konnte ich ein sehr angenehmes und erspriessliches Arbeitsklima im Departement schaffen. Wenig Anerkennung hatte ich nur bei Personen, die noch zu beweisen suchten, dass sie mit der Ablehnung des Frauenstimmrechts Recht gehabt hätten, und bei einigen Akademikern, die sich nicht damit abfinden konnten, dass eine Nichtakademikerin Bildungsdirektorin sein konnte.

Nicht ganz problemlos war mein Verhältnis zu den Feministinnen. Sie kritisierten mich gelegentlich wegen  meiner Zurückhaltung bei Frauendemonstrationen. Zuerst konnte ich dies überhaupt nicht verstehen; ich tat doch so viel zugunsten besserer Chancen für die Frauen! Meine intensive Auseinandersetzung mit dieser Kritik hat mir jedoch klar gemacht, dass es zwar meiner Natur widerspricht, an Demos teilzunehmen, dass es aber durchaus gute Möglichkeiten gibt, um Frauensolidarität zu leben, was ich dann dank der Kritik viel bewusster tat. Heute ist mir bewusst, dass ich eine spannende und für mich äusserst günstige Zeit erlebt und die Chance hatte, diese auch mitzugestalten. Ich hatte in allen Lebensbereichen aussergewöhnlich viel Glück, viel Unterstützung und Zuwendung, wofür ich täglich sehr dankbar bin.

21. Dezember 2020

 

Daten und Fakten zu Brigitte Mürner-Gilli

Brigitte Mürner-Gilli (76) war von 1987 bis 1999 Regierungsrätin des Kantons Luzern. Sie leitete das Erziehungs- und Kulturdepartement. Vorher wirkte sie als Mitglied der CVP-Fraktion, ebenfalls während zwölf Jahren, im Kantonsparlament. Brigitte Mürner-Gilli ist Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter, wirkte im Beruf als Primarlehrerin, Musiklehrerin und Leiterin der Musikschule in Littau. Heute leben Mürners in Meggen. Ehemann Rolf Mürner reduzierte sein Pensum als Sekundarlehrer auf 50 Prozent, als seine Frau in den Regierungsrat gewählt wurde. Brigitte Mürner engagiert sich seit 1997 im Netzwerk Frauen Luzern. Bis 2014 war sie während 15 Jahren Mitglied des Verwaltungsrates im Lehrmittelverlag Klett & Balmer AG in Zug.