Klaus Heer (77): „Suchende brauchen keinen Traummann und keine Traumfrau, sondern eine wache Persönlichkeit.“ Bild: Ruben Ung

Späte Liebe (2)

„Bitte verwechseln Sie nicht Liebe mit Lebenssinn“

Der Schweizer Psychologe, Paartherapeut und Buchautor Klaus Heer erläutert im folgenden Interview, worauf reifere Menschen bei der Suche nach einer Beziehung achten sollten – gerade in Zeiten von Corona.
Mit Klaus Heer sprach Eva Holz

Ist die Suche nach dem richtigen Partner, der richtigen Partnerin mit 60 plus anders als mit 20? 
Klaus Heer: Wenn Sie wach sind bei Ihrer Suche, spielt Ihr Alter keine wesentliche Rolle.  

Sind Onlinedating-Plattformen ein Segen oder ein Fluch? Sehen Sie Partnervermittlungsbüros als die bessere Wahl?
Allein vor dem Computer zu sitzen und nach dem künftigen Partner zu fahnden, ist nicht jedermanns Sache. Es sieht vermutlich einfacher und chancenreicher aus, als es am Ende ist. Oft ist es zermürbend, wenn Sie sich in einem uferlosen Katalog von Paarungswilligen verlieren. Beim analogen Vermittlungsbüro müssen Sie Glück haben mit den vermittelnden Leuten.

In welche Fallen tappen reifere Menschen immer wieder auf der Suche nach dem Liebesglück?
Natürlich können Sie bei Ihrer Suche an Leute geraten, die Sie schlicht hereinlegen und ausnehmen wollen. Im Internet ganz besonders. Zum Beispiel ist es ein offenes Geheimnis, das sich ältere Männer gern eine Rund-um-die-Uhr-Pflegekraft organisieren – es aber nie so offen ausdrücken würden. Das bedeutet für Frauen, dass sie sich mit einem gerüttelten Mass an Misstrauen wappnen müssen. Doppelt oder dreifach so argwöhnisch sein wie gewöhnlich ist hier dringend nötig. Ausser Sie suchen wirklich jemanden, den Sie hingebungsvoll zu Tode pflegen können.

Und wo müssen Männer auf der Hut sein?
Auch bei partnersuchenden Frauen sind die Suchmotive nicht immer so transparent und edel wie es auf den ersten Blick erscheint. Viele Frauen haben ernüchternde Beziehungserfahrungen hinter sich. Wer nachhaltig enttäuscht ist, zieht vielfach schräge Schlüsse aus seinen Paar-Erlebnissen. Zum Beispiel kann es schwierig sein, den eigenen Liebeserwartungen gerecht zu werden. Doch noch entscheidender als Vorsicht ist die emotionale Intelligenz.

Wie meinen Sie das?
Wir sind nicht gemacht für ein Single-Kauz-Dasein. Wenn wir dem Alleinsein, ja der Einsamkeit – gerade in Zeiten von Pandemien – nicht entkommen können, spriessen Sehnsüchte in uns. Der Durst nach Nähe, Berührung und Erfüllung stimuliert Fata Morganas. Will heissen, voll unrealistische Bilder von Zweisamkeit und Liebe. Und klar, je intensiver dieses Sehnen, desto trüber der Blick auf ein mögliches Gegenüber. Auch auf sich  selbst und auf das, was Sie wirklich brauchen. Die eingeschränkte Möglichkeit, jemanden kennen zu lernen, bedeutet also eine zusätzliche Herausforderung an Sie selbst, an Ihren Realitätssinn. Deshalb jetzt erst recht aufgepasst: Sie brauchen keinen Traummann und keine Traumfrau, sondern eine wache Persönlichkeit!

Soll eine neue Bekanntschaft bald über „Altlasten“ im Bilde sein und in den Kreis der Familie und Freunde aufgenommen werden?
Das sind zwei ganz unterschiedliche Themen. «Altlasten» ist ein Synonym für Beziehungsgeschichte. Ist es ratsam, den neuen Partner in die Geschichten einzuweihen, in die ich zeitlebens verwickelt war? Beim Aufbau einer neuen Intimität kann das wünschenswert sein. Man lernt sich gewissermassen aus nächster Nähe kennen. Möglicherweise ist das aber auch überfordernd. Und zwar für den Partner, der aus seinem Vorleben berichten will oder soll. Und auch für sein Gegenüber, das sich das alles anhören will oder muss. Man tut gut daran, die Risiken vorher möglichst klar abzuschätzen.

Können Sie Menschen bei der Partnersuche drei konkrete Tipps geben?
Erstens: Halten Sie Ihr gesundes Misstrauen frisch. Gehen Sie nicht Ihren ungezügelten Sehnsüchten auf den Leim. Kochen Sie mit Wasser, nicht mit Nektar. Konkret: Seien Sie freundlich und freundlich zurückhaltend bei der Preisgabe von persönlichen Daten. Zweitens: Profitieren Sie von der Chance, dass Sie bei Ihrer Suche nach einer neuen lebenswerten Beziehung nicht vorab auf Äusserlichkeiten fokussieren müssen. Solange Sie sich noch nicht leibhaftig treffen, geniessen Sie Ihren sprachlichen, schriftlichen Kontakt. Volkstümlich nennt man das die «inneren Werte». Wenn Sie ausgiebig lesen oder hören können, was und wie Ihr Gegenüber formuliert, erfahren Sie viel mehr und viel Relevanteres als bei einem gewöhnlichen Date.

Und drittens? 
Sie sichten ja alles, was von Möchtegernliebhabern auf Ihren Computer hereinkommt. Verkriechen Sie sich nicht mutterseelenallein vor Ihrem Monitor. Machen Sie ein kleines Festival aus dieser Sichtung. Konkret: Laden Sie Ihre dickste Freundin, bzw. Ihren feinsten Kumpel zu sich ein und durchforsten Sie alle eingetroffenen Dokumente gründlich. Sie werden sehen: Das wird ein grosser, entspannter Spass.

Schlussendlich: Sollte man den Lebensabend nicht auch allein geniessen können?
Ohne Mann respektive Frau ja, aber nicht ohne Freundschaft. Freundinnen und Freunde – einer oder zwei genügen womöglich bereits – sind mehr als Gold wert, wenn man älter wird. Man sollte sich vor der Zwangsvorstellung hüten, nur eine Beziehung mache das Leben erfüllt und freudvoll. Bitte verwechseln Sie nicht Liebe mit Lebenssinn. Der berühmte Psychoanalytiker Erich Fromm hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Er schrieb sinngemäss, die Ehe sei die am weitesten verbreitete «Zivilisationsschablone». Kein lebendiger Mensch braucht diese Krücke, um aufrecht durchs Leben zu gehen. - 28. April 2021 

eva.holz@textbueroholz.ch

Dieses Interview ist in ähnlicher Form auch im Magazin „active&live“ erschienen.