Lebensräume planen, in denen man gut alt werden kann: Antonia Jann.

«Es braucht viele unterschiedliche Wohnformen und Wohnangebote im Alter»

Antonia Jann hat über zwanzig Jahre die Age-Stiftung geleitet und insbesondere die verschiedenen Wohnformen im Alter zu einem öffentlichen Thema gemacht. Nun verlässt sie die Stiftung und macht sich selbständig. Welches sind ihre Erfahrungen?Von Linus Baur, Seniorweb (Text und Bild)

Die Age-Stiftung in Zürich beschäftigt sich seit 2001 intensiv mit dem Thema Wohnen und Altern. Jährlich unterstützt sie Wohnprojekte mit rund drei Millionen Franken. Neben der Auswahl und Begleitung einzelner Projekte fördert die Stiftung die Systematisierung von Wissen, Marktanalysen und Fachdiskurse im In- und Ausland. Antonia Jann hat die Stiftung seit der Gründung als Geschäftsführerin geleitet. 

Wie haben Sie den Wandel im gesellschaftlichen Umfeld während Ihrer langjährigen Arbeit in der Age-Stiftung erlebt?
Antonia Jann: Als ich 2001 bei der Age-Stiftung angefangen hatte, waren Heime und Alterswohnung die wichtigsten Wohnformen, für die Fördergelder beantragt wurden. Dies hat sich in den letzten 20 Jahren geändert. Heute leben auch im hohen Alter viel mehr Menschen zu Hause und gehen erst ins Heim, wenn sie einen Bedarf an umfassender Pflege haben. Dadurch gelangten andere Themen in den Fokus unserer Förderung: Gibt es genügend hindernisfreie Wohnungen, die sich ältere Menschen leisten können? Gibt es Einkaufsmöglichkeiten und Begegnungsmöglichkeiten im Dorf oder im Quartier? Wie einfach ist es, Hilfe und Unterstützung zu finden? Was braucht es, damit das Zusammenleben gut organisiert werden kann?

Im Rückblick, welche neuen Erkenntnisse haben Sie bezüglich Wohn- und Betreuungsangebote fürs Älterwerden gewonnen?
Es war der Age-Stiftung von Anfang an wichtig, dass die Sichtweise der älteren Menschen in den Projekten abgebildet ist. Mir wurde jedoch immer mehr bewusst, dass es den älteren Menschen nicht gibt, sondern dass man immer schauen muss, an welche Gruppe sich ein Projekt richtet. Welchen biographischen Hintergrund haben die Leute? Welche kulturellen Vorlieben? Welche finanziellen Möglichkeiten? Das heisst, dass es viele unterschiedliche Wohnformen und Wohnangebote braucht, denn nicht alle älteren Menschen haben die gleichen Wünsche und Möglichkeiten.

Welchen Stellenwert räumen Sie dem autonomen Wohnen im Alter ein? Wie haben sich die Handlungsfelder verändert?
Das selbstbestimmte Wohnen hat einen sehr hohen Stellenwert und das gilt nicht nur für ältere Menschen. Dennoch kann es passieren, dass das autonome Wohnen nicht mehr ohne weiteres möglich ist: beispielsweise nach einem Unfall oder im hohen Alter, wenn körperliche, sensorische oder psychische Beeinträchtigungen bewältigt werden müssen. Doch auch wenn autonomes Wohnen nicht mehr möglich ist, bleibt eine gewisse Selbstbestimmung wichtig. Professionell Helfende sollten sich an den Bedürfnissen der betroffenen Person orientieren und nachfragen, was für diese am besten passt. Das ist nicht immer einfach, denn der gesetzliche Rahmen macht es der Spitex und den Heimen nicht einfach, so zu arbeiten, wie es für die Beteiligten richtig und sinnvoll wäre. Hier gibt es noch viel politischen Handlungsbedarf. Man muss den Pflegenden mehr Vertrauen schenken und mehr Spielraum lassen, ohne dabei die Kosten aus den Augen zu verlieren.

Welche Betreuungsangebote und Projekte, die Ihre Stiftung mit finanziellen Beiträgen unterstützt hat, finden Sie gelungen, welche weniger?
Mir gefallen einfache Projekte, die ältere Menschen ansprechen, ohne dass gleich ein übermässiges Betreuungsangebot damit verknüpft ist. Wohnangebote mit einer Kontaktperson vor Ort, die die Selbständigkeit und die gegenseitige Unterstützung fördert, finde ich zum Beispiel sehr gut. Auch Wohnprojekte, die unterschiedliche Generationen ansprechen, gefallen mir gut. Bei den Generationenprojekten ist es aber wichtig zu wissen, dass es primär um ein freundliches Nebeneinander geht. Oftmals gibt es schon ein gutes Gefühl, wenn man weiss, dass es in der Nachbarschaft Leute hat, die man bei Bedarf ansprechen kann. Einen intensiven Austausch und gegenseitige Hilfe sollte man bei diesen Projekten nicht erwarten. Zu beiden Themen gibts ein Age-Dossier zum downloaden.

Wie viele Projekte hat die Age-Stiftung bislang finanziell unterstützt und wie viel Geld ist dabei geflossen?
Seit 2002 haben wir 355 Projekte gefördert. Wir geben jedes Jahr rund drei Millionen Franken für die Projektförderung aus, das sind insgesamt mehr als 60 Millionen. Das ist nur möglich dank der klugen Bewirtschaftung des Vermögens durch unseren Stiftungsrat. Seit rund fünf Jahren ist unser Portfolio übrigens weitgehend in nachhaltige Anlagen investiert. Alle Projekte, die wir gefördert haben, sind bei uns auf der Webseite aufgeführt. Dort sieht man nicht nur, welche Erkenntnisse aus den Projekten gewonnen wurden, sondern man sieht auch, wie viel Geld sie von uns erhalten haben.

Wo sehen Sie neue, weiterführende Lösungsansätze für das Wohnen im Alter, die es verdienen, finanziell unterstützt zu werden?
Vor allem im Bereich der kostengünstigen Wohnungen braucht es sicher noch mehr Anstrengungen. Gerne dürfen Projekte auch mit den aktuellen Leistungsgrenzen von Spitex und Heim spielen. Für den einzelnen Menschen macht es nämlich wenig Sinn, dass stationäre und ambulante Systeme unterschiedlich finanziert werden, das verhindert die notwendige Durchlässigkeit. Allerdings muss man sagen, dass viele professionelle Anbieter von Spitex und Heimen begonnen haben, die Angebote besser aufeinander abzustimmen. Immer öfter ist man sich bewusst, dass es nicht reicht, einen Wohnbau zu planen, sondern dass es darum geht, Lebensräume zu planen, in denen man gut alt werden kann.

Welches Fazit beruflicher und persönlicher Art ziehen Sie aus Ihrer langjährigen Arbeit als Geschäftsführerin der Age-Stiftung?
Für mein eigenes Älterwerden nehme ich drei Erkenntnisse mit: Erstens ist mir bewusst, wie wichtig ein gutes Wohnumfeld ist. Da möchte ich frühzeitig in gute Beziehungen und in gute Infrastruktur investieren. Zweitens möchte ich mich so lange wie möglich für andere Menschen interessieren und engagieren, das trägt viel zu einer guten Lebensqualität im Alter bei. Und drittens hoffe ich, dass ich bis zum Schluss flexibel bleibe, denn das Altwerden lässt sich nur begrenzt planen.

Welche neuen Herausforderungen nach dem Weggang warten auf Sie? Oder ziehen Sie ein geruhsames Leben mit wenig Verpflichtungen vor?
Ich werde im nächsten Monat 60 Jahre alt und mache mich für meine letzten Berufsjahre selbständig als Verwaltungsrätin und als Beraterin. So kann ich hoffentlich besser dosieren, wie viel ich arbeite. Bei aller Freude an der Arbeit, verbringe ich nämlich auch sehr gerne Zeit mit meinem Mann und den beiden Enkeln, beim Lesen oder mit Spaziergängen im Wald.
 

Zur Person
Antonia Jann (60) ist promovierte Gerontologin. Bis Ende Februar leitete sie die Age-Stiftung, die sich mit dem Thema Wohnen und Älterwerden beschäftigt. Ursprünglich studierte Antonia Jann Pädagogik, Psychologie und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Sie lebt in Zürich und hat zwei Töchter sowie zwei Enkelkinder. Ab Anfang April macht sie sich mit einer Einzelfirma jannmoeschlin.ch selbständig.


3. März 2022 – Linus Baur leitet die Redaktion Seniorweb.