Rolf Ebi lässt sich auch in Museen inspirieren, hier im Kunstmuseum Luzern.

«Wo ich bin, bin ich ganz»

Er war ein Leben lang Lehrer, jetzt ist er immer noch Lernender: Wandernd und zeichnend verinnerlicht er die Welt. Der 78-jährige gebürtige Schaffhauser Rolf Ebi kennt weder Leere noch Langeweile.Von Hans Beat Achermann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Als Vorbereitung auf das Gespräch hat mir Rolf Ebi zwei Artikel in den Briefkasten gelegt: Der eine erinnert an die US-Bomben, die am 1. April 1944 auf Schaffhausen abgeworfen wurden, der andere stammt aus der Zeitschrift «wandern.ch» und ist eine Reportage über Rolf Ebi, der mit Stift und Papier im Val d’Ossola unterwegs ist. Beide Artikel lagen in einer Karte mit einem Aquarell von Rolf, das den Munot zeigt, das Wahrzeichen von Schaffhausen. Wandern und Zeichnen: Beides sind bis heute wichtige Pfeiler in Rolf Ebis Leben, in welchem es ihm «keinen Tag langweilig ist».

Auf allen Stufen der Primarschule
Rolf Ebi war ein paar Monate alt, als Schaffhausen versehentlich bombardiert wurde. Rauch und Gas beschädigten die Lungen des Kleinkinds.  Noch heute leidet Rolf zeitweise unter Atemproblemen. In Schaffhausen hat er eine KV-Lehre absolviert, doch bald zog es ihn weg, zuerst nach Paris für einen Sprachaufenthalt. Luzern wurde kurz darauf zu seinem Lebensmittelpunkt, da er hier den zweijährigen Lehramtskurs für Berufsleute besuchen konnte. 39 Jahre lang unterrichtete er ab 1965 in Kriens auf allen Stufen der Primarschule. Daneben amtete er viele Jahre als Bezirksinspektor sowie als Jugend+Sport-Leiter und Erwachsenensport-Experte. Noch jetzt spürt man die Begeisterung für den Lehrerberuf, wenn er davon erzählt, wie er gerne ein experimentierfreudiger Motivierer war, in den Gemeindeschulen Kriens als erster Primarlehrer ein Klassenlager durchführte und Gruppenarbeit förderte. Den Abschied von der Schule «empfand ich als würdig. Kein Abzählen der verbleibenden Jahre. Im Gegenteil: Ich zog noch einmal alle Register des Unterrichtens. Der Lehrerberuf war mein Traumberuf».

Bemerkenswert: Schon mit 60 plante er sein erstes Projekt für einen sinnvollen Übergang ins nachberufliche Leben. Am 1. März 2005 machte er sich bei Schneefall in Einsiedeln auf den Jakobsweg, wanderte in zwei Monaten nach Pamplona, wo er die Weitwanderung unterbrach, nach Luzern zurückkehrte und einen Spanisch-Sprachkurs besuchte. Den Rest des Weges bis nach Finisterre absolvierte er 2006 in dreissig Tagen.

Ein sehfreudiger Wanderer
Das Wandern wurde mehr und mehr zu einem Lebensinhalt von Rolf. Er leitete Wanderungen bei Pro Senectute und bildete selber Hunderte von Wanderleiterinnen und -leitern aus. 100 bis 120 Tageswanderungen pro Jahr verzeichnet seine Agenda noch heute, allein, zu zweit und manchmal mit Gruppen. Immer dabei: der Zeichenblock und die feinen Filzschreiber, mit denen er skizziert, häufig im Südtessin. Schon als Bub hat er gezeichnet, Wettbewerbe gewonnen, der Vater lehrte ihn das genaue Schauen und die perspektivische Zeichnung. Insgesamt 31-mal hat er in Pugerna über dem Luganersee Aquarellkurse besucht, in Luzern lernte er auch noch die Kunst des Radierens. Es ist die «Sehfreude», die ihn antreibt, die Neugier und die Entdeckerlust. «Als sinnlicher Mensch bin ich voller innerer Bilder und Erinnerungen.» Ein fotografisches Gedächtnis ist gewissermassen sein Archiv. Die gezeichneten Erinnerungen rufen oft ganze Kaskaden von Verinnerlichtem hervor. Steine, Kristalle, Pilze, wilde Orchideen, Landschaften, aber auch Begegnungen mit Menschen, Rolfs Interessen sind weitläufig.

Auch wenn er jetzt häufig allein unterwegs ist, als Einzelgänger möchte er nicht gesehen werden: «Ich brauche auch den Austausch mit meiner Partnerin, mit Freunden und Kollegen, mit Menschen, die ich unterwegs antreffe.» Drei Tage vor unserer Begegnung war er wieder einmal in Schaffhausen, erst unterwegs realisierte er, dass es der Todestag seiner Mutter war. Wie immer besuchte er den Kreuzgang und den Kräutergarten beim Museum zu Allerheiligen, schaute sich auch die Varlin-Ausstellung an. Mitgebracht hat er eine schöne Farbstiftzeichnung, ein impressionistisches Gartenbild, das jetzt auf seinem kleinen Zeichentisch im hellen Wohnzimmer liegt, zwischen Stiften, Heften, Blättern, Blöcken.

Eine weitere Passion von Rolf Ebi ist der Orientierungslauf. Seit über 40 Jahren ist er OL-Läufer, immer noch ambitioniert: Im Juni hat er im Zürcher Oberland an einem 3-Tage-OL einen Sieg in seiner Kategorie 75+ herausgelaufen, 17 Konkurrenten hinter sich gelassen. «Natürlich erfüllt mich das mit Stolz, auch wenn Mitmachen zunehmend wichtiger wird», sagt der unermüdliche Bewegungsmensch, für den der Tag zu wenig Stunden hat, um all seinen Interessen nachzugehen. «Ich muss mich bremsen», redet er sich zu, doch gleichzeitig gesteht er, dass er «bis ans Lebensende lernen» möchte. Der Lehrer als ewig Lernender.

Loslassen und vereinfachen
Nächstes Jahr wird er 80. Gerne möchte er im Frühjahr 2024 einen Teil seiner Bilder zeigen, seiner Familie, seinen Freunden und Bekannten, genau 80 Jahre nach dem verheerenden Bombenabwurf, der ihn am Anfang seines Lebens mitgeprägt hat. Ein «Work in Progress» sei zudem das Vereinfachen, das Reduzieren. Bücher hat er schon verschenkt, die Mineraliensammlung möchte er einem Museum übergeben, alles mit dem Ziel, sich noch stärker fokussieren zu können auf Wesentliches, auf die Bilder, die inneren und die äusseren. Denn Rolf Ebi ist nicht nur ein ausgeprägter Bewegungsmensch – «wie ein Hund, der Auslauf braucht» –, er geniesst auch die Ruhe in der Natur und in seiner aussichtsreichen Wohnung im Obergütsch, wo der Vater einer Tochter und inzwischen dreifache Grossvater seit 50 Jahren wohnt.

«Älterwerden ist für mich eine Chance. All die neuen Herausforderungen geben mir Energie, lassen mich nicht passiv und untätig werden.» Gerne möchte er nochmals ein Stück Pilgerweg unter die Füsse nehmen, alte Erinnerungen nachleben, neue Erfahrungen machen, mit Leib und Seele und Zeichenstift, ganz nach seinem Lebensmotto: «Wo ich bin, bin ich ganz.»

11. Juli 2022 – hansbeat.achermann@luzern60plus