Meinrad Buholzer Foto: Joseph Schmidiger

Gegen den Strich

Von Meinrad Buholzer

Ich lese Werbung gerne gegen den Strich. Wenn sich also ein Unternehmen für seine Pünktlichkeit lobt oder für seine Zuverlässigkeit, dann, sage ich mir, hat es ein Problem mit der Pünktlichkeit oder der Zuverlässigkeit. Als die SBB noch für Pünktlichkeit bekannt war, weit über die Schweiz hinaus, musste sie keine Reklame dafür machen – die sprach sich herum, auch ohne Plakate.

Heute ist das anders. Unzuverlässigkeit ist ein Reputationsschaden, der umgehend behoben werden muss. Dafür gibt es Fachleute. Die behaupten dann erst mal an Plakatwänden, in Inseraten und Werbespots das Gegenteil: Dass die Firma X pünktlich und zuverlässig ist, dass sie selbstverständlich nur beste Qualität liefert und der Kunde sowieso König ist (bis er in der Warteschlange des Kundenservice hängen bleibt). Mit der Behebung des Problems lässt man sich meistens Zeit (oder ändert die Parameter für Pünktlichkeit). Hauptsache der gute Ruf ist – wenigstens an der Plakatwand – wieder hergestellt.

Als ich in den Journalismus einstieg, herrschte zwischen Medien einerseits, der öffentlichen Hand, Unternehmen und Institutionen anderseits gegenseitiges Misstrauen. Wir kamen oft nur mit Mühe oder gar nicht zu Informationen; die andere Seite fürchtete böse Absichten, dass wir ihr schaden wollten. Das war beidseits unbefriedigend. Und so tauchten, vorerst zaghaft, dann in immer kürzeren Intervallen Pressesprecher, Informationsbeauftragte, Kommunikations-abteilungen auf. Das würde unsere Arbeit leichter machen, so kämen wir müheloser zu den Fakten, glaubten wir – jedenfalls die Naiven unter uns (zu denen auch ich gehörte).    

Der Honeymoon dauerte nicht lange. Man hätte es wissen müssen. Selbstverständlich waren diese Leute angestellt worden, um ihre Firma, Regierung, Institution erstrahlen zu lassen, aufs Podest zu stellen, uns glauben zu lassen, deren Wirken sei ein einziges, stetiges Bemühen im Interesse aller. Es ging, wurde uns mit jedem Tag klarer, weniger um Fakten und Hintergrundinformation, sondern um Werbung, um Verkaufspsychologie (mit der Zeit zogen die Politiker nach, sie brauchten jetzt einen Berater, der für ihre Dauerpräsenz in der Öffentlichkeit sorgte, für ihr Image, das bald wichtiger wurde als ihre eigentliche Arbeit, Hauptsache man blieb, durch welche Banalitäten auch immer, im Gespräch – aber das ist eine andere Geschichte…).

Unsere Arbeit wurde nicht leichter. Wir waren jetzt nicht mehr mit mürrischen Beamten, mundfaulen Abteilungsleitern und feindseligen Firmenchefs konfrontiert. Nein, wir wurden freundlich angehört, man versicherte uns Entgegenkommen, wollte der Sache nachgehen, stellte uns eine Antwort in Kürze in Aussicht. Die dann doch ausblieb oder so dürftig war wie zuvor, die noch nicht bereit war zur Publikation. Oder der Zuständige war abwesend. Oder die Geschichte, in der wir recherchierten, sagte man uns, sei aus der Luft gegriffen. Oder auch nur schlicht, aber nicht unfreundlich: «Kein Kommentar!» Und wir mussten hinter den schöngefärbten und/oder langweiligen Communiqués die Fakten erahnen und versuchen, der Sache wieder auf den alten, umständlichen Wegen auf den Grund zu gehen. Die Rede von Faktenkosmetikern und Informationsverhinderungsbeauftragten machte die Runde.

Der Fairness halber sei festgehalten: Es gab durchaus Leute, die uns halfen, die offen kommunizierten, sich bemühten, den von uns aufgebrachten Geschichten nachzugehen, die unsere Anliegen verstanden, sich anständig und entgegenkommend verhielten. Aber im Grunde lief es darauf heraus, dass die andere Seite die Zeichen der Zeit erkannt hatte und im grossen Kampf um Ansehen, Präsenz, um das Image eben, nicht zurückstehen, sondern es aufpolieren wollte. Mit allen Mitteln! Und mit dem Resultat, dass Realität und verlautbarte «Information» aus den einschlägigen Büros immer weiter auseinander klafften.

PS: Inzwischen frage ich mich, ob mir das Lesen gegen den Strich nicht zur Manie geworden ist. In der vergangenen Weihnachtszeit ertappte ich mich bei dem ketzerischen Gedanken, dass die immer exzessiver um sich greifenden, glitzernden und wild blinkenden Festtagsbeleuchtungen vielleicht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Bewusstsein von der Weihnachtsbotschaft stehen. - 25.2.2021

meinrad.buholzer@luzern60plus.ch

 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.