Als erfolgreiche Intellektuelle musste Heidi Witzig schmerzlich lernen, was es heisst, eine Frau zu sein und die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen.

Geradeaus auf krummen Wegen

Am Marktplatz 60plus vom 14. Mai in der Kornschütte ist auch Heidi Witzig auf dem Podium (13.30 Uhr). Die Feministin, Historikerin und Buchautorin wird dort erläutern, was es mit der «GrossmütterRevolution» auf sich hat und wie man Lebenslust statt Altersfrust fördert.Von Monika Fischer (Text und Bild)

Seit Jahrzehnten setzt sich Heidi Witzig (78) mit innerem Feuer für die Frauen ein. Die Protagonistin der Frauengeschichte wurde am 4. November 2021 für ihr langjähriges Engagement mit dem Ehrendoktorat der Universität Luzern ausgezeichnet. Sie freut sich über die reiche Ernte im Herbst des Lebens. Neugierig und lebenslustig setzt sich die Mitbegründerin der «GrossmütterRevolution» weiterhin für Projekte ein, die nicht nur anderen, sondern auch ihr etwas bringen.

Erstmals bin ich Heidi Witzig über das von ihr mit Elisabeth Joris herausgegebene, fast 600 Seite dicke Buch «Frauen-Geschichte(n)» begegnet. Bald nach seinem Erscheinen traf ich sie erstmals persönlich am Unabhängigen Frauentreff in Willisau, wo sie einen Vortrag zum Thema «Frauenbilder – Bilderbuchfrauen» hielt. Gemäss meinem im April 1993 verfassten Zeitungsbericht fand ihr Referat grosses Interesse. Von ihrem reichen Wissen darf ich in der über zehnjährigen Zusammenarbeit in der «GrossmütterRevolution» (www.grossmuetter.ch) immer wieder profitieren.

Daten und Orte haben für sie keine grosse Bedeutung. Wichtiger sind die Erfahrungen, die ihren Lebensweg geprägt haben. «Geradeaus auf krummen Wegen. Und das in aller Heftigkeit, das gehört einfach zu mir und ist mein Lebensmotto», sagt sie lachend.

Geprägt vom Vater
Die älteste Tochter und Schwester von vier Brüdern ist in Frauenfeld in einer Bürohandelsfamilie aufgewachsen. «Wir wurden sorgfältig methodistisch erzogen. Der Vater unterstützte mich in allem, was ich wollte, die Welt stand mir offen. Ich war das Goldschätzli meines Vaters. Er nannte mich ‹es gschiits Meitli› und kontrollierte mich dauernd, sogar noch, als ich studierte.» Sie war 15, als ihr der Vater bei der ersten Abstimmung fürs Frauenstimmrecht 1959 den Zettel hinlegte mit den Worten: «Heidi, du kannst Ja schreiben.» Die Mutter hingegen, die ihre vier Brüder noch heute als Heilige verehren, lehnte sie ab. «Sie war wohl eine liebe, ruhige Frau. Doch habe ich ihre Wärme nie gespürt. Sie hat sich nie für mich gewehrt und mich nicht aufgeklärt, was Frausein bedeutet.»

Aufbruch
Um sich der Kontrolle der Familie zu entziehen, heiratete Heidi 1969 ihren Kollegen Hans Schäppi. «Ganz traditionell im weissen Kleid, mein Orgellehrer spielte zur Hochzeit. Zuvor hatten wir uns offiziell verlobt und wie damals üblich eine Wunschliste gemacht, da wir kein Geld hatten.» Das Paar wohnte in Uetikon am See in einer 3-Zimmer-Wohnung. Schon drei, vier Jahre später zog der Ehemann wieder aus. «Wir wussten in keiner Art und Weise, wie eine Partnerschaft gepflegt wird. In der antiautoritären Bewegung wollte vor allem mein Mann alles ausprobieren. Auch ich habe Fehler gemacht, jedoch an Ehe und Treue geglaubt.» Gleichzeitig engagierte sie sich in der Frauenbefreiungsbewegung FBB. «Ich war in den wilden Aufbruchszeiten bei allen Aktionen dabei. Wichtig war für mich die Selbsterfahrungsgruppe. Wir erzählten uns gegenseitig unsere Geschichten und konnten unsere Unsicherheiten als Frau erstmals benennen.» Nach Annahme des Frauenstimmrechts 1970 im Kanton Zürich trat Heidi der SP bei und kam durch eine Kampfwahl in die Schulpflege Uetikon.

Familie und Politik
Sie blieb ein paar Jahre in der Gemeinde und lernte in dieser Zeit Ruedi Vetterli kennen. Erst als sie schwanger war, liess sie sich von Hans Schäppi scheiden. 1979 wurde Tochter Verena geboren. Zuerst wohnte die Familie in Uster in einer WG in einer grossen Mansardenwohnung, später mit einer anderen dreiköpfigen Familie in einer Haus-WG. Heidi liess sich sofort in den Gemeinderat wählen. «Die Partei suchte damals händeringend Frauen, auch fürs Parlament in Bern. Doch merkte ich bald: Der parlamentarische Weg ist nicht gut für mich. Ich höre nach links und nach rechts, möchte lieb sein und nicht anecken. So blieb ich im Gemeinderat.»

«Frauengeschicht(en)» – ein Riesenerfolg
Während ihres Geschichtsstudiums an der Uni Zürich hatte sie das Hauptfach gewechselt und ihr Doktorat mit einer kunstgeschichtlichen Analyse des 15. Jahrhunderts zum Thema «Die Florentiner Bürger und ihre Stadt» mit Summa cum laude abgeschlossen. Doch wurde ihr der Abschluss als Kunsthistorikerin später zum Verhängnis, sie konnte nicht als Geschichtslehrerin an Mittelschulen gewählt werden. So arbeitete sie in der Galerie Koller als Kunstexpertin und kam nach einer entsprechenden Ausbildung als Dokumentalistin zum Schweizer Fernsehen.

Während der Arbeit an einem Buch über die Schweizer Arbeiterbewegung entschloss sie sich 1978 gemeinsam mit Elisabeth Joris ein Parallelbuch zur Frauengeschichte herauszugeben. «An der Uni gab es viele engagierte Feministinnen, die mitmachten und uns unterstützten. Es war ein riesiges Gemeinschaftsprojekt. Alles in Gratisarbeit, wir hatten ja daneben unseren Lohn.» Das Buch «Frauengeschicht(en): Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz» kam 1986 im Limmatverlag erstmals heraus und wurde ein Riesenerfolg. (Im Juni 2021 ist es in fünfter aktualisierter Auflage im Limmat-Verlag erschienen.)

Ein, zwei Jahre später bekamen die beiden Historikerinnen Geld vom Nationalfonds für das zweite Buch «Brave Frauen, aufmüpfige Weiber, Frauenalltag im Kanton Zürich». «Es erschien 1992 und wurde wieder ein Hit. Wir wurden in der ganzen Deutschschweiz eingeladen, Vorträge zu halten und Artikel zu schreiben», freut sie sich rückblickend.

Bald erreichte sie die Anfrage eines Professors der Uni Basel, an einem gross angelegten Projekt über die Alltagsgeschichte der Schweiz mitzumachen. Das einzige Ergebnis war ihr Buch «Polenta und Paradeplatz: Regionales Alltagsleben auf dem Weg zur modernen Schweiz 1880-1914», erschienen 2000 bei Chronos in Zürich.

«Wer bin ich als Frau?»
Heidi Witzig war fast 50, als sie sich diese Frage stellte. «Seit dem Gymi kam ich als Frau gut an, ich hatte Erfolg als Historikerin und Politikerin, konnte hinstehen für das, was mir wichtig war. Intellektuell hatte ich mich zwar mit Frauenthemen auseinandergesetzt, dabei jedoch mein eigenes Frausein aus den Augen verloren und mich nie um meine körperlichen Bedürfnisse gekümmert. Erst jetzt hatte ich die Sicherheit, diese Frage zu stellen.»

Nach dem Besuch der «Liebesschule» bei Doris Christinger, wo sie sich und andere besser kennenlernte, wachte sie auf: «Wir waren im Frauentantra, weil wir bedürftig waren, und bekamen endlich Freude an der Sexualität.» Allerdings wurde ihr auch klar, dass ihr Partner sie seit Jahren betrügt. Es war ein furchtbarer Schlag. Gleichzeitig wusste sie: «Wenn ich es positiv nehme, kann es für mich zu einer Chance werden, indem ich mich frage: Wer bin ich, dass ich es nicht gemerkt habe? Die schmerzliche Erfahrung und die daraus gewachsene Erkenntnis waren nötig für meine Entwicklung als Frau. Es war mein Stern, dem ich folgen wollte.»

Begleitung bis zum Tod
Sie blieb trotzdem bei ihrem Partner, weil sie ihn liebte: «Ich konnte nicht mit ihm und nicht ohne ihn und den gemeinsamen Freundeskreis leben. Ich war verletzt, immer wieder neue Wunden kamen dazu. Es war ein überaus schmerzhafter Prozess. Ohne jahrelange Psychotherapie hätte ich es nicht ausgehalten.»

Als sie doch endlich eine eigene Wohnung nehmen wollte, bekam er die Diagnose: Lungenkrebs. Heidi begleitete ihn bis zum Tod. Sie schildert die schmerzlichsten sieben Monate ihres Lebens: «Ich war enorm empfindlich und habe häufig geweint. Unglaublich, wie glücklich und befreit Ruedi war, als er wusste, dass er stirbt. Wir haben sogar noch geheiratet. Es tröstete mich, dass er so gehen konnte, wie er wollte.»

Seit dem Tod ihres Mannes 2003 beschäftigt sich Heidi Witzig freischaffend mit Themen, die sie interessieren. 2007 erschien ihr Buch «Wie kluge Frauen alt werden».

Neue Liebe im Alter
Obwohl ihr Leben ruhiger geworden ist, gibt es immer wieder Überraschungen. Sie erzählt von ihrer Jugendliebe David aus Irland, der sie vor ein paar Jahren nach dem Tod seiner Frau im Internet gesucht und wieder gefunden hat. Die Begegnung freute sie. Doch liess sie sich Zeit, bis sie es wagte, sich noch einmal ernsthaft auf eine Liebesbeziehung einzulassen. Beide sind sich bewusst, dass sie kaum bis zum Tod beisammen sein können. «Wir reden immer wieder darüber – das nimmt der Realität den Schrecken – und geniessen die Zeiten des Beisammenseins umso mehr.»

Würdigung der Pionierinnen
Am 4. November 2021 erhielt Heidi Witzig die Auszeichnung zur Ehrendoktorin an der Universität Luzern. Wichtiger als die offizielle Zeremonie war ihr das Referat «Ansichten und Aussichten von Frauengeschichten» vor der ganzen Fakultät, auf das sie sich gründlich vorbereitet hatte. Es ist für sie die Verbindung der Uni mit der ausseruniversitären Forschung und Zivilgesellschaft, eines ihrer Kernthemen.

Im Rückblick auf das Jubiläumsjahr «50 Jahre Frauenstimmrecht» freut sie sich über die in diesem Jahr entstandenen Vernetzungen zwischen vielen bewegten Menschen, zwischen den Generationen, Gewerkschaften, Studierenden usw. «Besonders überrascht und gefreut hat mich, dass die jungen Frauen würdigen, wofür wir früher hingestanden sind und dazu erst noch danke sagen. Unglaublich, diese vielen Zeichen der Solidarität! So hat das Jubiläum trotz Pandemie das Bestmögliche erreicht.»

21. April 2022  – monika.fischer@luzern60plus.ch