Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

«Bewusst sein heisst Zeit haben»

Von Meinrad Buholzer

Eine erste Wahl haben wir hinter uns, weitere folgen. Diese Ereignisse künden sich jeweils mit einer leicht erhöhten medialen Präsenz der Kandidierenden an – wozu ihnen, und das meine ich jetzt nicht einmal so sarkastisch wie es tönt, fast jedes Mittel recht ist. Manche schreiben Leserbriefe und ergänzen ihre Adresse mit dem Zusatz «Kandidatin» oder «Kandidat», verbunden mit ihrer jeweiligen Partei. Wobei Leserbriefe heute schon fast anachronistisch wirken, als ob man mit dem Zweispänner vorfahren würde. Andere inszenieren einen Medienanlass, auf dass ihr Bild die Runde macht. Am beliebtesten aber scheint die Dauerpräsenz in den Sozialen Medien, sieben Tage die Woche, rund um die Uhr…

Es war um das Jahr 2010 herum, als ich in Amerika das erste Mal von Twitter hörte. Ich war zu Besuch bei einem Freund und er erzählte mir, dass der Chef einer nicht ganz unwichtigen staatlichen Behörde der USA twittere, wie er am Förderband im Flughafen stehe und auf seine Koffer warte. Wir fragten uns, ob er wohl nichts Gescheiteres zu tun habe, als all seinen «Freunden» mitzuteilen, wie er die Zeit totschlägt? Inzwischen bin ich auf die Welt gekommen.

Wer heute etwas auf sich hält, teilt dieser Welt umgehend mit, wo er gerade ist und was er macht. Und je banaler diese Mitteilungen, desto beliebter scheinen sie zu sein. Beliebt sind auch Selfies aller Art. Alle teilen sie uns ungebeten und ohne weitere Reflexion ihren Senf über alles und jeden mit. Eine Art verbaler Durchfall (eine Analogie, die durchaus auch Jargon und Inhalt umfasst). Peinlich auch die Zurücknahmen und Entschuldigungen, die folgen, wenn der Schuss daneben ging. Selbst eine Bundesrätin glaubt, uns mit einem Bild von ihrem Frühstück im Nachtzug nach Wien beglücken zu müssen (wobei sie damit selbstverständlich darauf hinweisen will, dass sie den Zug genommen hat und nicht das Flugzeug). Und noch immer frage ich mich: Haben sie nichts Gescheiteres zu tun?

Allerdings kann man sie verstehen, sie haben ja gute Gründe. Politik (aber nicht nur sie) ist heute ein Dauerwettbewerb um Aufmerksamkeit. Keine und keiner kann es sich leisten, die Chance für zehn Sekunden öffentlicher Aufmerksamkeit entgehen zu lassen.  Denn wer sich nicht permanent in den Vordergrund drängt, verzweifelt nach Omnipräsenz dürstet, droht vergessen zu gehen. Und wer vergessen geht, wird nicht gewählt. So weit so nachvollziehbar.

Das Problem dabei: Weil das ganze Tun und Trachten auf diese Sozialen-Medien-Hektik ausgerichtet ist, bleibt das Denken auf der Strecke. Der politische Diskurs erschöpft sich über weite Teile in reflexhafter Effekthascherei. Dabei bleibt keine Zeit mehr zum Rückzug, um ein Problem zu drehen und zu wenden, es von verschiedenen Seiten zu betrachten, sich vielleicht – ebenfalls in Ruhe – mit einem Kollegen, einer Kollegin auszutauschen und dann einen Entscheid zu fällen (ohne dabei die ganze Welt dauernd auf dem Laufenden zu halten).

Ach, das ist Schnee von gestern, vergebene Müh. Selbst das, was man bisher die «Chambre de Réflexion» nannte, ist dem Zeitgeist verfallen. Das sieht man dann nicht selten auch an den Entscheiden unserer Parlamente (vor allem, wenn sie nach kurzer Zeit wieder korrigiert werden müssen).

Es gibt ein Zitat des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas, über dem ich jahrelang gebrütet habe: «Bewusst sein heisst Zeit haben.» Die politischen Dauerberiesler auf ihren Kanälen, den Blick ständig auf ihre Smartphones gerichtet, haben mir die Augen geöffnet, denn etwas haben sie offensichtlich nicht mehr: Zeit (zum Denken und für ein bewusstes Sein).

18. April 2023 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975-2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.